In seinem Vorwort weist Christian Endres darauf hin, dass sein erster „Sherlock Holmes Roman“ zwar Motive, Ideen und Hintergründe aus seiner vor einigen Jahren ebenfalls beim Atlantis- Verlag veröffentlichten „Sherlock Holmes“ Kurzgeschichtensammlung übernommen hat, aber im Grunde gänzlich eigenständig ist. Nicht ganz eigenständig, denn im Verlaufe der Handlung werden einige so britische Legenden wie der Mythos um Excalibur und die Möglichkeit, König von Großbritannien zu werden oder Arthur Conan Doyles Faible für übernatürliche Wesen sich in einer Brücke zwischen dem Mythenreich und diesem exzentrischen, aber wiedererkennbaren Großbritannien widerspiegelt. Auch die Legende um Jack, the Ripper – er ermordet in diesem Buch keine Dirnen, sondern Feen – wird gut in die Handlung eingebaut, auch wenn am Ende Christian Endres hier noch keine Lösung präsentieren möchte. Aber die wirklich unorthodoxen Demonstrationen gegen die unfähige Polizei und die Politiker helfen bei einigen dynamischen Verfolgungsjagden hinsichtlich des Spannungsaufbaus.
Bei einer Serie um zwei fiktive Ermittler von einem Paralleluniversum zu sprechen, ist immer vermessen. Aber vom ursprünglichen Kanon ausgehend hat Christian Endres nur wenige Punkte „stehen gelassen“. Sherlock Holmes und Doktor Watson inklusiv der lieb gewonnen Nebenfiguren; das viktorianische England und schließlich die Aufklärung einer mächtigen Verschwörung. Während Doyle in seinen Geschichten die Politik eher als kritisches Mittel zum Zweck genommen hat, folgt Endres einer Reihe von dem Kanon zuzuordnenden Texten anderer Autoren und versucht sehr cineastisch, England an den Rand des Abgrundes zu bringen und die schon schwierig zu verstehende Ordnung mit einem Moriarty als ambivalenten Premierminister noch weiter zu erschüttern. Konzeptuell geht der Autor geschickt vor. Ein kleiner „Fall“ als Einleitung mit dem Angriff auf den Troll, der wie viele der magischen Minderheiten diskriminiert wird. Wie die farbigen Sklaven in den USA haben die magischen aus Oberons Reich durch die offenen Tore strömenden Wesen in dem viktorianischen England keine Rechte, auch wenn man sie wegen ihrer Kraft – siehe Trolle – oder ihrer Geschicklichkeit – siehe die Zwerge, welche London für die U- Bahn buchstäblich unterhöhlen- oder ihrer immer mehr schwindenden magischen Künste eigentlich auch benötigt. Watson zieht zumindest in der Theorie wieder in die Baker Street ein, während er sich gleichzeitig verliebt. Kaum ist die erste Episode abgeschlossen, geht es um den eigentlichen „Fall“. Das legendäre Schwert „Excalibur“ ist gestohlen worden und der verzweifelte Professor wendet sich an den berühmten Detektiv, während Inspektor Lestrade von den Taten Jack, the Rippers ein wenig abgelenkt, noch weiter hinter Sherlock Holmes herläuft. Nach Untersuchung des Tatorts, den ersten Ideen einer Verschwörung Moriartys gegen das britische Imperium, einer Zurechtweisung durch Mycroft Holmes, der Begegnung mit dem letzten lebenden Dodo und einem weiteren Verdächtigen – es ist ein Mitglied der Pendragon Familie – zieht Christian Endres das Tempo in der zweiten Hälfte des Buches positiv wie allerdings auch negativ immer weiter ein, um schließlich neben dem ohne Frage spektakulären Anschlag auf die Königin, dem verzweifelten Kampf der Verteidiger Londons gegen eine übernatürliche Armee mit einer weiteren legendären Figur und einem Opfergang der eher überraschenden Art den Roman im wahrsten Sinne des Wortes ausrollen zu lassen. Schon die Kurzgeschichtensammlung hat bewiesen, dass Christian Endres ein sehr einfallsreicher, experimentierfreudiger Autor ist, der manchmal ein wenig zu sehr die grundlegende Idee über die eigentliche Erzählung stellt. Diese Schwächen lassen sich auch im vorliegenden Roman erkennen. In erster Linie soll es eine Sherlock Holmes Geschichte sein, aber der Detektiv deduziert zu wenig im Theoretischen, sondern agiert der Steampunk Manier und den beiden Kinogeschichten folgend ausgesprochen offensiv. Dabei finden sich einige Spuren eher zufällig und am Ende gehört er zu den Personen, die nur noch reagieren können. Es ist kein typischer Sherlock Holmes Roman, sondern eine wilde buntgemischt Abenteuergeschichte, in welcher Figuren aktiv sind, die der Leser aus anderen Arbeiten kennt. Wenn am Ende sich die Ereignisse aus einer im Grunde unmöglichen Situation überschlagen, fühlt man sich ein wenig zu sehr überfahren. Immer wieder zieht Christian Endres wieder eine Variation aus dem Hut, legt einen möglichen Plan vor die Füße des Lesers, um wenige Seiten später wieder logisch betrachtet die Situation unmöglich zu verschärfen. Das es am Ende ein Happy End gibt, steht außer Frage, aber insbesondere auf den letzten Seiten mit dem Kampf Mann gegen Wesen in den Londoner Straßen, dem verzweifelten, aber nicht gänzlich erfolgreichen Eingreifen einer magischen Heerschar und den tanzenden Drachen fehlt die atmosphärische Hintergrundaufbau und als Autor gerät der Humorist Christian Endres ein wenig an seine Grenzen. Um die eigentlichen Sherlock Holmes Fans zu befriedigen, dreht Endres in einer Welt, in der alles möglich erscheint – selbst die Rückkehr des Königs, der zumindest im 19. Jahrhundert England nicht mehr vereinigen muss – den Spieß um und lässt Holmes/ Watson Teil des Geschehens sein, aber nicht mehr der eigentliche Mittelpunkt der Geschichte. Holmes ist dabei weniger deutlich zu erkennen als Watson, der nicht der übliche Narr durchaus Entscheidungen treffen kann. Schwer verliebt in eine deutlich jüngere, sehr attraktive Frau muss er um Erlaubnis bitten, um seinen besten Freund während des Showdowns begleiten zu können. Natürlich dient Watson weiterhin als Mittler zu den Lesern. Er versucht sich ebenfalls an Holmes Beobachtungsgabe, scheitert aber auf einem erstaunlich hohen Niveau. Selbst der große Detektiv muss ein oder zweimal schummeln, um die Fakten zusammentragen zu können. Die Actionszenen sind gut geschrieben worden und die Einbindung der Figuren ist überzeugend.
Es sind die wenigen nicht zufriedenstellend behandelten Teile, die „Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen“ zu einem soliden, gut geschriebenen, aber nicht gänzlich zufriedenstellenden Leseerlebnis machen. Da wäre die kontinuierliche Konfrontation mit Moriarty. Da sich Endres auf einen anderen, im Grunde ausbaufähigen Erzschurken gestürzt hat, kann der Leser nicht abschließend belastbar einschätzen, ob Endres Sherlock Holmes mit seinen Vorwürfen gegen den Napoleon des Verbrechens in einer gehobenen politisch wichtigen Position recht hat oder ob der Detektiv aufgrund seiner persönlichen Fehde – warum eigentlich, denn dieser Moriarty scheint einen gänzlich anderen Weg gegangen zu sein ? – die Augen vor der Realität verschließt und/ oder schlimmer paranoid ist. Auch die Jack the Ripper Handlung verkommt im Laufe des Buches mehr und mehr zu einem MacGuffin, um die Seiten zu füllen. Das ist in doppelter Hinsicht schade, da die Ermordung magischer Wesen vielleicht nicht nur der Befriedigung niederer Gelüste dient.
Auf der semipolitischen Ebene ist die Auseinandersetzung mit den magischen Nachbarn, ihrem plötzlichen Verschwinden nach den weiteren Morden und damit dem Auseinanderbrechen des gewöhnlichen Londoner Lebens ein sehr innovativer Aspekt dieses Buches. Das dieser rote Faden angesichts des blutigen Showdowns und der einzigartigen Bedrohung Londons nicht weiter fortgeführt werden konnte, ist dabei sogar verständlich.
Der Kontrast und ein Teil der Popularität dieses Sherlock Holmes ist, dass er in einer von Magie durchzogenen Welt rational agiert. Doktor Watsons Berichte werden in einem kleinen Seitenhieb mit Charles Dickens verglichen, der in seinen populären Büchern ebenfalls alles Magische, Übernatürliche ignoriert ist. Es ist eine doppelte Ironie, dass Sherlock Holmes und Doktor Watson nur teilweise den „Fall“ – der Diebstahl des Schwertes und des Dodos – ohne Magie angehen, die Bedrohung Londons aber nur mit Hilfe eines Zauberers und eines Rituals beseitigen können. Natürlich könnte Doktor Watson seinen dank des literarischen Agenten Arthur Conan Doyles weit verbreiteten Bericht ohne Hinweise auf die Magie niederschreiben, der Leser weiß aber, dass es anders ist.
Zu den Stärken des Buches gehört ohne Frage, dass Endres ein vielschichtiges bizarres London erschaffen hat. Die Reise von Watson und Oscar Wilde durch die erotische, jedes Laster ausprobierende Unterwelt gehört ebenfalls dazu wie der Anschlag auf die Königin oder schließlich auch der Kampf um London. Neben den zahlreichen leichter oder schwieriger erkennbaren Hinweisen nicht nur auf Doyles Werk, sondern vor allem auch zahllose andere Geschichten sind es diese kleinen, die erste Hälfte des Buches unauffällig begleitenden Details, die das Vertrauen in den souveränen Erzähler verstärken. Als Ganzes betrachtet ist „Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen“ eine interessante, auf jeden Fall lesenswerte Spielart des Kanons, wobei der Autor rückblickend insbesondere im Mittelteil tempotechnisch ein wenig erschöpft wirkt und während der finalen Auseinandersetzung überambitioniert ein wenig zu viel aufs Korn nimmt und zu klischeehaft, auch ein wenig enttäuschend abschließt. Zusammengefasst ein Buch, in dem die Stärken die wenigen Schwächen deutlich überdecken und das als magische Steampunkgeschichte noch mehr zu überzeugen weiß denn als „klassische“ Sherlock Holmes Geschichte.
Atlantis- Verlag, Paperback
Titelbild: Timo Kümmel
A5 Paperback, ca. 360 Seiten, ISBN 978-3-86402-220-3.