Nachtsicht

Stephen Hunter, Nachtsicht, Rezension,
Stephen Hunter

Der zweite Roman um en ehemaligen Scharfschützen Bob Lee Swagger „Nachtsicht“  kann in mehrfacher Hinsicht als Schlüsselroman angesehen werden. Zum ersten ist es der Mittelband einer ursprünglich von Stephen Hunter konzipierten Trilogie mit „Shooter“ als Auftakt und „Time to Hunt“ (1993 bis 1998 entstanden) als Abschluss. Auf der anderen Seite geht das Buch intensiv auf die letzten Tage Earl Swaggers ein, der später in einer eigenen Trilogie agieren durfte.  Und wie in „Soft Targets“ Bob Lee Swagger einen ihm lange unbekannten Sohn präsentiert, wird am Ende des Buches impliziert, dass auch Earl Swagger ein familiäres Geheimnis gehabt hat. Der dichte Plot nimmt Bezug auf einige Geschehnisse nicht nur aus dem Handlungsbogen von „Shooter“, sondern vor allem auch auf die militärische Ausbildung von Scharfschützen im Allgemeinen und Swagger im Besonderen.  Wer sich über die bisherigen zwei Veröffentlichungen im FESTA Verlag hinaus in Stephen Hunters Universum orientieren will, der wird in diesem fünf Jahre nach den Ereignissen von „Shooter“ spielenden Roman eine Reihe von Figuren finden, die später ihre Auftritte  haben werden.  Bob Lee lebt bescheiden, aber nicht ärmlich von der Welt isoliert in Arizona. Er hat die Witwe seines Kriegskameraden Julie Fenn geheiratet und gemeinsam haben sie eine vierjährige Tochter. Dieser Aspekt des Romans wird mehrfach erwähnt und zeigt, dass Swagger hier verwundbar ist.  Anstatt aber auf Klischees zurückzugreifen umschifft Hunter diese Flanke mit einer interessanten Variation der Ganovenehre. Da die Handlung zweigeteilt ist, schaut der Leser während der sich langsam entwickelnden Gegenwartshandlung schon Bob Lees Vater über die Schulter. Dabei sind diese Details durchaus für den ganzen Plot wichtig und werden ein wenig überzogen am Ende für die Lösung herangezogen. Ob selbst in einem rassistisch nicht durchsetzten Staat ein Strafmandat alleine zu einer Verurteilung ausgereicht hätte, soll dabei nicht hinterfragt werden.  Russ Pewtie sucht Bob Lee in seinem Heimatort auf. In einem späteren Roman wird insbesondere Pewties Familie noch einmal durchleuchtet. Im vorliegenden Band spielen die Erreignisse keine wichtige Rolle. Alleine die Doppelung ist interessant. Während der hoch dekorierte Scharfschütze Bob Lee der Sohn eines örtlichen Polizisten und damit ebenfalls in Ausübung seiner Pflicht gestorbenen regionalen Helden ist, muss Pewtie mit dem Manko leben, dass sein Vater für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich ist. Pewtie will ein Buch über Bon Lees Vater schreiben. Unter der Bedingung, dass nichts über ihn geschrieben wird, willigt Bob Lee schließlich eher widerwillig ein, Pewtie in seine Heimatstadt zu begleiten und an dem Buch zu arbeiten. Interessant ist, dass Pewtie im Grunde keine Ahnung hat, wie er in einem solchen Fall vorgehen soll. Neben der eher oberflächlichen Hintergrundrecherche muss ihn Bob Lee immer wieder auf Widersprüche hinweisen. Bob Lee hinterfragt ohne Frage auch aufgrund seiner Erfahrungen während der Präsidentenverschwörung in „Shooter“ ein wenig paranoid dessen Vorgehensweise.   Natürlich stoßen sie in ein Wespennest und machen zumindest einen örtlichen Gangster auf sich aufmerksam, der Mittel und Wege sucht, Bob Lee und Pewtie auszuschalten. Auch wenn die Vorgehensweise des Autors manchmal ein wenig zu klischeehaft und stereotyp ist, bleiben am Ende einige Fragen offen.  Hunter weißt zu stark in eine Richtung, um einen möglichen Täter zu identifizieren, der es natürlich am Ende nicht ist.  Warum dieser aber sich so stark nicht nur einschaltet, sondern ein Killerkommando anheuert oder schließlich auch die mögliche Aufklärung von zwei Verbrechern zu verhindern sucht, macht angesichts der in seinem Fall präsentierten Informationen noch keinen nachhaltigen Sinn. Wenn er so von den Zusammenhängen vor allem auch seinen eigenen Vater betreffend überrascht worden ist, dann hätte er sich bei der Suche nach dem Mörder eines jungen farbigen Mädchens, dem sehr kompliziert angelten Hinterhalt und dem einzigen eher oberflächlichen Beweis nicht so in die Enge treiben sollen. Viel schlimmer ist, dass er es mit seiner Vorgehensweise persönlich macht und damit auch Bob Lee abschließend auf sich selbst aufmerksam macht, ohne das wirklich eine echte Spur zu ihm hätte führen können.  Natürlich ist es in einer Paranoia Geschichte interessant, verschiedene falsche Spuren zu legen und ein Verbrechen mit einem gänzlich anderen zu überdecken, aber für die Planung stimmt teilweise die zeitliche Reihenfolge auch nicht. Zwischen der ersten Tat und dem Entdecken der Leiche liegen einige Tage. Bob Lees Vater wird einen Tag später ermordet. Zu diesem Zeitpunkt ist der einzige in Frage kommende Täter aufgrund verschiedener Sentimentalitäten Earl Swaggers erst einen Tag aus dem Gefängnis und überfällt gleich organisiert einen Supermarkt, um dadurch Earl Swagger quasi in eine Falle zu locken. Zum Zeitpunkt des ersten Verbrechens war der Schlüssel zur erfolgreichen Ausführung der Tat noch gar nicht frei und die Planung konnte ihn höchstens indirekt einschließen. Der Plan ist so ausgesprochen kompliziert, dass man sich wundert. Das gleiche gilt auch für die verschiedenen Fallen, die Bob Lee in der Gegenwart gestellt werden. Da der Titel sich auf die Fähigkeit bezieht, im Dunkel zu sehen und nicht nur realistisch, sondern auch im übertragenen Sinne zu sehen ist, reicht alleine der Anschlag mit zehn bewaffneten Männern nicht wirklich aus, um die Kräfteverhältnisse zu beschreiben.  Auch das Duell der Scharfschützen – intensiv geschrieben, aber kann man wirklich glauben, dass ein Mann in einem Zeitraum von vierzig Jahren nicht ein wenig seine Fähigkeiten einbüßt? – im Wald ist ein weiterer Actionhöhepunkt, der aber  stark bemüht und weniger natürlich erscheint. Bob Lee und Pewtie diskutieren in einer Szene des Buches, ob es nicht wie im Leben auch in einem Roman Zufälle geben darf, die unnatürlich erscheinen, sich aber so abspielen. Die darf es geben und vielleicht verzeiht der Leser Stephen Hunter deswegen diese Hilfskonstruktionen, weil der Autor um den weniger absolutistischen, sondern eher verletzlichen Bob Lee sowie den gänzlich überforderten, eher blassen aber pragmatischen Pewtie herum eine Reihe von interessanten Nebenfiguren platziert hat. 

Auf Seite der Schurken wäre s nur indirekt Frenchy Shorty, der von Bob Lees Vater eine Zeit protegiert, der in den Earl Swagger Romanen auftaucht. Ein klassischer Trickser, der im Schatten der CIA anscheinend die eigenen Prämissen und Vorgaben ignorierend alles nicht in wenigen Tagen, sondern im Grunde in Stunden organisieren kann und sich dabei nicht selten die eigenen Taschen füllt.  Vielschichtiger ist der unter Alzheimer leidende Staatsanwalt Sam Vincent, der in „The Shooter“ einen kleinen Auftritt hat. Selten ist die Heimtücke dieser Krankheit so intensiv und beklemmend, so greifbar und doch effizient ohne Kitsch beschrieben worden.  Sam Vincent taucht sowohl in der Gegenwart – der Roman spielt im 20. Jahrhundert - als auch dem Jahre 1955 auf.  Damals hat er die Ermittlungen hinsichtlich der Ermordung des jungen farbigen Mädchen geleitet und ist wie er in der Gegenwart erkennen muss, in die heimtückisch geschickt gestellte Falle gelaufen. Es hilft ihm nicht, dass er ein Jahrzehnt später einen Mann ins Gefängnis gebracht hat, der als Weißer einen Farbigen erschlagen hatte. In der Gegenwart sucht er nicht zuletzt durch Bon Lee inspiriert noch einmal nach den Fakten und kann in den wenigen lichten Momenten erkennen, dass seine Ermittlungen 1955 zu glatt verlaufen sind. Neben der dreidimensionalen eckigen Persönlichkeit – immer am Rande des kratzbürstigen Rechtsanwaltes mit einem Herzen aus Gold – sind es Hunters Beschreibungen hinsichtlich des Alzheimer Tunnels, der ihm ein klares Denken versperrt, die lange über den Plot hinaus im Gedächtnis bleiben werden.

Daneben sind die verschiedenen inzwischen in Ehren ergrauten farbigen Bürger der Stadt mit ihrem Gottesglauben genauso zu nennen wie der naive örtliche, aufgrund seiner Spielschulden gekauft Hilfssheriff oder der schon angesprochene Gangster sowie der Senator, der auf dem Weg zum Vizepräsidenten dem langen Schatten seines Vaters entkommen möchte. Dieses Motiv – das nicht immer leichte Erbe der Väter – verbindet übrigens alleine vier männliche Protagonisten aus beiden Lagern miteinander und hätte in einem weniger ambitioniert angelegten Roman klischeehaft gewirkt.

Über fast sechshundert Seiten entwickelt sich die Handlung weiterhin mit einem leichten Hang zum Waffenfetischismus mit sehr ausführlichen Beschreibungen der einzelnen Waffen und ihrer Wirkungen anfänglich bis auf die angesprochenen Actionszenen auf einem sehr intensiven, sehr zufriedenstellenden Niveau, bevor am Ende Leser und Autor etwas erschöpft sind.  Hunter geht noch kritischer mit dem Militär im Allgemeinen und korrupten Offizieren im Besonderen um, so dass „Nachtsicht“ kein militaristischer Roman ist, sondern eine militärisch gut unterlegte Kriminalgeschichte, um zwei Verbrechen, von denen eines mit einem anderen überdeckt werden muss. Eine grundsätzliche originelle Fortsetzung zum deutlich cineastisch angelegten „Shooter“, die dem erfahrenen Leser immer wieder vertraut vorkommende Ereignisse, Szenen oder Zusammenhänge umgehend wieder auf den Kopf stellt.                  

 

Buchreihe:Festa Crime
Auflage:Deutsche Erstausgabe
Buchseiten:608 Seiten
Ausführung:Paperback, Umschlag in Festa-Lederoptik
Format:20 x 12,5 cm
ISBN:978-3-86552-337-2
Originaltitel:Black Light
Übersetzung von:Patrick Baumann
Erscheinungsdatum:05.12.2014
Kategorie: