Pilgrim Soul

Gordon Ferris

„Pilgrim Soul“ ist nach „Galgenfrist für einen Toten“ und „Bitter Water“ der dritte Roman um den ehemaligen Polizisten, Soldaten, inzwischen Reporter und Amateurdetektiv mit krimineller Energie Douglas Brodie, der im Glasgow der Nachkriegszeit spielt. Der Plot stellt aber auch eine direkte Verbindung zur zweiten, nur bislang zwei Romane umfassenden Serie um Danny McRae dar, der wie Brodie schlimme Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Während Brodie nach dem Krieg dank seiner deutschen Sprachkenntnisse das Personal des KZs Ravensbrück verhörte und Trittbrettfahrer von Tätern unterscheiden sollte, überlebte McRae Dachau nur mit schwersten Verletzungen. Interessant ist, dass „Pilgrim Soul“ handlungstechnisch nicht an „Bitter Water“ anschließt, sondern mit wichtigen politischen und angenehm zu lesenden Elementen einen wichtigen Aspekt des zweiten McRae Krimis „The Unquiet Heart“ fortsetzt. Es empfiehlt sich in diesem Fall, die Serien nicht chronologisch zu lesen, sondern spätestens an die Lektüre von „Bitter Water“ anschließend mit den beiden sehr viel intensiveren und nuanciert strukturierten Romanen um Danny McRae zu beginnen.

 Zu Beginn von „Pilgrim Soul“ wird Douglas Brodie wieder von seiner Gastwirtin/ Freundin Samantha Campbell gebeten, als Amateurschnüffler verschiedene Einbrüche in die Häuser reicher jüdischer Familien zu untersuchen. Die Glasgower Polizei fühlt sich nicht zuletzt aufgrund des latenten Antisemitismus in der schottischen Stadt nicht dafür zuständig. Als Reporter will Brodie diesen Job anfänglich nicht übernehmen. Er läßt sich aber von Sam überzeugen. Schnell findet er den potentiellen Täter, einen als Gasmann verkleideten Serienverbrecher, der aber wie sein Hehler auf brutalste Art und Weise ermordet wird. Aus einer einfachen Verbrecherserie wird plötzlich eine politische Verschwörung, denn anscheinend ist das teilweise im Umlauf befindliche Gold mit Amalgam versetzt, was eine Verbindung nach Deutschland und damit auch den Konzentrationslagern bzw. dem Aufstand im Warschauer Ghetto andeutet. 

 Dabei berührt Gordon Ferris auf eine ausgesprochen zugängliche Art und Weise verschiedene, auch heute noch aktuelle Themen wie Gerechtigkeit oder Rache. Schon „The Unquiet Heart“ setzte sich mit der Gründung des Staats Israel; der Einstellung der jungen Generation Juden, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen und schließlich der undankbaren von der UNO übernommenen Rolle der Briten auseinander, irgendwo zwischen dem jungen Staat Israel und den provozierten Arabern die Rolle eines Polizisten zu übernehmen. Diese Thematik wird im vorliegenden Buch nicht ausgebaut, aber alle Aspekte inklusiv einer Handvoll von relevanten Charakteren spielen insbesondere gegen Ende des zynischen, nihilistischen doch auf eine besondere Art auch über die menschlichen Urinstinkte optimistischen Buches eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu den ersten beiden Fällen der Brodie Reihe, in denen pädophile Neigungen in „Galgenfrist für einen Toten“ und eher profane Kapitalverbrechen eine Rolle spielen, schlägt Ferris den Bogen in die Vergangenheit Brodies und konfrontiert ihn wieder mit den Befragungen der deutschen Kriegsverbrecher unmittelbar nach Kriegsende. Wie Samantha Campbell muss er nach Deutschland, um dort weniger an den britischen Prozessen gegen die zweite oder dritte Reihe der Schuldigen mitzuwirken, sondern er muss versuchen, den Ausgang der Rattenlinie zu finden, der offensichtlich Kriegsverbrecher aus verschiedenen Internierungslagern nach Schottland schleust. Von dort sollen sie in die USA und nach Lateinamerika aufbrechen. Betrachtet der Leser den Fall von der politischen Seite, dann tritt Ferris in einige Mienenfelder. Er deutet an, dass insbesondere die amerikanischen Behörden eine intellektuelle Elite unabhängig von ihren Taten quasi unter den Augen der ehemaligen Verbündeten in die USA schleuste und diese Aktivitäten nur kurzzeitig unterbrach, als der Wissensgehalt der geführten Flüchtlinge nicht mehr von einem Nutzen für die amerikanische Forschung gewesen ist. Dabei wird nicht nur Wernher von Braun erwähnt, sondern auch Ärzte, die in den KZ Menschenversuche unternommen haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Krimis dieser Zeit lässt Ferris diese illegalen Aktivitäten nicht unbeantwortet. Nicht Brodie ist die Antwort, sondern der zynische McRae, der quasi aufgrund seiner Verletzungen zu einem lebendigen Toten geworden ist und deswegen richten darf. Natürlich bewegt sich Ferris hinsichtlich der „Gerechtigkeit“ auf einem schmalen Grad. Es werden keine Unschuldigen getötet oder ausgeliefert. Im Vergleich zu „Galgenfrist für einen Toten“, wo ein Unschuldiger im Krieg schwerstverletzter Mann für Verbrechen, die er offensichtlich nicht begangen hat, hingerichtet worden ist, gibt es weder in „The Unquiet Heart“ noch in „Pilgrim Soul“ diesen fragwürdigen Graubereich. Die Schuldigen werden getötet/ gefoltert und nur selten ausgeliefert, während die offensichtlichen Täter im Zweiten Weltkrieg wie danach nach den Unschuldigen greifen und diese ermorden. Was wie eine eindimensionale Auseinandersetzung mit einem in mehrfacher Hinsicht schwierigen und schwierigsten bis an den Rand der Volksverhetzung erscheinen könnte, wird von Gordon Ferris in seinem bislang besten Roman vor allem durch die eindringlichen Dialoge immer wieder hinterfragt oder in einigen Punkten relativiert. Auch wenn McRae und Brodie das Grauen des Kriegs am eigenen Leib erlebt haben, sind sie unterschiedlich verroht. McRae hat die Grenze überschritten und sieht seine Ermittlungen als Fortführung des Krieges und damit Bestrafung der Nazis mit den damals opportunen Mitteln, während Brodie zwar Druck auf die potentiellen Zeugen oder Tippgeber ausgibt, er aber auch über eine Art schlechtes Gewissen verfügt. Zwischen diesen beiden Männern steht die Rechtsanwältin Samantha Campbell, die aus der Idylle ihrer reichen Existenz förmlich heraus gerissen und in Hamburg die Naziverbrecher mit anklagen soll. Gleichzeitig steht sie nicht im emotionalen Sinne zwischen zwei Männern, die auf unterschiedliche Art und Weise das gleiche Ziel wollen. Gordon Ferris geht ein wenig mehr auf den Hintergrund von McRae und Brody ein, die sich zumindest aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kennen. Wie angedeutet ist der Verzicht auf jegliche moralische Verurteilung ihrer jeweiligen Aktionen und Taten ein anfänglich irritierendes, im Verlauf der packend erzählten Handlung aber den Gehalt des Buches hebendes Element. Es ermöglicht dem Leser allerdings aus einer zeitlichen Distanz von zwei Generationen nicht, ein oder vielleicht kein Urteil zu fällen oder sich eine umfangreiche Meinung auszubilden, aber zumindest sich selbst die Frage zu stellen, wie der Leser selbst auf eine direkte Konfrontation mit den überwiegend plötzlich feigen angeblichen Befehlsempfängern reagiert hätte.

Um diese drei wichtigen und dreidimensional beschriebenen, dem Leser inzwischen vertrauten Figuren herum hat Gordon Ferris eine Reihe von erstaunlich leicht unterscheidbaren Nebenfiguren platziert. Da wäre die jüdische Gemeinde, die sich von den Behörden im Stich gelassen fühlt. Oder die jungen Juden, die sich aktiv zu wehren beginnen und für welche die Gründung des Staats Israel die Chance auf eine neue, freie Heimat ist. Auch hier hat die Geschichte inzwischen ein politisch differenzierteres Bild gezeichnet, das Opfer zu Tätern macht und die politischen Implikationen Glasgows des Jahres 1946 auf eine andere, nicht weniger schwierige Ebene transportiert. Da wären aber auch die Nazis. Inzwischen Freiwild verstecken sie sich in Glasgow und warten teilweise auf ungewöhnliche Hilfe. Wenn eine der gefangenen Frauen schließlich Brodie an den Kopf wirft, das im Terror des Zweiten Weltkriegs auch Deutsche lieben können und geliebt werden, dann relativiert der Autor einige der Positionen. Seine Nazis sind nicht von Grund auf böse und rein sadistisch. Ihre Motive sind ohne Frage falsch gewesen, das Verstecken hinter Befehlsketten feige, aber niemand kann ihnen verwehren, das sie eher verzweifelt sich bemühen, vor der ohne Frage gerechten Strafe zu fliehen. Den ohne Frage historisch auch diskussionswürdigen Punkt der Kollektivbestrafung eines ganzen Volkes stellt Gordon Ferris hinten an.

Auch seine jüdischen Gemeindemitglieder sind nicht von sich aus gut oder agieren ausschließlich gerecht. Immer wieder hinterfragt Ferris die verschiedenen Vorgehensmethoden, wobei er zwischen Folter zur Gewinnung von Informationen und psychologischem Druck vielleicht ein wenig zu sehr entschuldigend zu unterscheiden sucht. Seine Figuren beginnen aber auf den Seiten zu leben und wenn sich wie in „The Unquiet Heart“ ein wichtiger Nebencharakter als Doppelagent entpuppt, ist die Überraschung perfekt, auch wenn die Charaktere und damit impliziert die Leser über ein differenzierteres biblisches Wissen verfügen müssen, um die Tarnung zu durchschauen. Auch hier bricht Ferris keinen Stab, sondern nutzt diese spannungstechnisch opportun eingesetzten Elemente, um die geradlinige Handlung vielschichtiger, ambitionierter und vor allem überzeugend intensiver erscheinen zu lassen. Zumindest beschreibt er aber die Folgen des Bomberkrieges der Alliierten, wenn Brodie zusammen mit Campbell von einer durch den Krieg gezeichneten belgisch niederländischen Region nach Deutschland kommt, wo in den Großstädten kein Stein auf dem anderen geblieben ist.

Die Stärke der beiden ersten Romane der Brodie/ McRae Serien lag darin, einen überzeugenden unangenehm realistischen Hintergrund des zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs zu nehmen und davor verschiedene Kriminalfälle zu extrapolieren. In schwächeren Arbeiten wie „Bitter Moon“ wirkte diese Verbindung eher bemüht als überzeugend. In den sehr guten Romanen flossen Hintergrund und Plot untrennbar ineinander. In dieser Hinsicht ist „Pilgrim Soul“ zusammen mit „Galgenfrist für einen Toten“ und „The Unquiet Heart“ ein intellektuelles Meisterwerk, in dem Action – es gibt einige Verfolgungsjagden und schließlich auch zwei oder drei Schießereien – mit gehaltvollen interpretationswürdigen Dialogen zu einem nicht nur unterhaltsamen, sondern nachdenklich stimmenden Garn gemischt worden ist.           

Hardback: 320 pages (Apr. 2013)

Publisher: Corvus

ISBN: 0857897608

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