Wir Seezigeuner Band 2

Robert Kraft

Der zweite von insgesamt vier Sammelbänden des Lieferungsromans „Wir Seezigeuner“  aus dem Jahr 1907 enthält die Kapitel 44 bis 85 mit 38 Innenillustrationen. Herausgeber Dieter von Reeken hat sich bemüht, die einzelnen Lieferungen mit abgeschlossenen Kapiteln, aber nicht Handelsbögen auf die vier schon  gestalteten Hardcover aufzuteilen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Bände in der chronologischen Reihenfolge zu lesen.

Die ersten Kapitel des zweiten Bandes schließen die Abenteuer mit dem Zigeunerjungen Karlemann ab. Ein Teil der Besatzung der Sturmbraut unter dem Kommando von Richard Jansen dringt von einem Dampfer gezogen  auf vier Schaluppen in den afrikanischen Dschungel ein. Karlemann möchte für den Zirkus, den er auf der von ihm erstandenen Insel aufbaut, Tiere und gleichzeitig auch die Tochter eines afrikanischen Königs im übertragenen Sinne einfangen. Robert Kraft folgt in diesem Kapitel mit einer Mischung aus Komik – Karlemann ist körperlich zu schwach, um mehrmals den Rückstoß seines „Bärentöters“ abzufangen – und Dramatik mit dem Überfall der Gorillas auf das Lager der Besatzung.  Im direkten Vergleich zu anderen Afrika-Romanen unter anderem aus der Feder Sir Henry Rider Haggards erzählt Robert Kraft diese Passagen mit einem leicht ironischen Tonfall. Die drei schwarzen Führer streiten sich, welchen der drei Flussläufe man nehmen soll-   das wirkt fast schon absurd. Die knallig bunten Häuschen auf den jeweiligen Schaluppen erscheinen bizarr, zumal Robert Kraft nicht nur ihre Entstehung, sondern ihre Nutzung ausführlich beschreibt.

In die Afrika Expedition hinein beginnt Robert Kraft schon den nächsten Handlungsabschnitt. Dabei kehrt der Autor auf ein Szenario aus der ersten Lieferung zurück. Richard Jansens Geliebte und Mutter seines unehelich geborenen Kindes hatte ihn verlassen. Die englische Lady Blodwen von Leytenstone befindet sich wieder in Großbritannien, wo es noch eine Anklage wegen Körperverletzung gegen die junge Frau gibt. Anscheinend hat einer ihrer raffgierigen Verwandten sie statt nach New York gleich nach England bringen wollen, das Schiff ist allerdings unterwegs gesunken. Und der rettende Dampfer fuhr nach Großbritannien. Inzwischen sitzt sie in einer Irrenanstalt, ihr gemeinsames Kind ist in die Obhut einer staatlichen Organisation gegeben worden. Richard Jansen beschließt, seine einzige wahre Liebe – trotz der Enttäuschungen – aus der Anstalt und damit auch aus Großbritannien zu befreien.

Was auf den ersten Blick wie eine Aneinanderreihung von Klischees wirken könnte, ist sehr viel raffinierter angelegt. In der Nacht findet nicht eine Befreiung der Lady statt, sondern deren zwei. Natürlich muss der zweite Plan schief gehen und Richard Jansen gerät unter Verdacht. Hinzu kommt, dass es während der Aktion einen Toten gegeben hat. Um die Situation noch schwieriger zu machen, kann Richard Jansen seine Emotionen nicht unter Kontrolle halten und gerät wegen eines anderen Verbrechens für mehrere Monate in britische Haft. Der emotionale Ausbruch angesichts auch für den Leser alter Bekannter wirkt ein wenig aufgesetzt, zumal zu diesem Zeitpunkt Richard Jansen ja nicht einmal weiß, wo die Lady ist und wer sie vorher befreit hat. Ein kühlerer Kopf angesichts des fertig durchdachten Plans hätte gut getan. Aber Robert Kraft will die Spannungskurve weiter anziehen und muss seinen ansonsten immer überlegen agierenden Protagonisten in weitere Schwierigkeiten bringen. Nicht nur in diesem Punkt wirkt Richard Jansen wie ein Vorbild für den späteren Waffenmeister/ Kapitän der „Argos“ aus „Das Gauklerschiff- die Irrfahrt der Argonauten“. In beiden Romanen gibt es Liebesbeziehungen zwischen dem deutschen Grund ehrlichen Seemann/ Offizier und einer britischen bzw. aus Hamburg stammenden sehr reichen Lady. In „Das Gauklerschiff“ allerdings lange Zeit deutlich platonischer, da sich die Seefrau als „Mutter“ aller Argonauten sieht, auch wenn sie zu ihrem persönlichen  Waffenmeister Georg Stevenbrock immer eine besondere Beziehung unterhalten hat. 

 Kaufmännisch stehen sich Stevenbrock und Jansen auf einer Stufe über der Unfähigkeit gegenüber. In den hier zusammengefassten Lieferungen soll Jansen Silberbarren der brasilianischen Regierung nach Montevideo bringen. Brasilien ist in beiden Lieferungsromanen von einem Bürgerkrieg zerfressen. Stevenbrock entführt den brasilianischen Präsidenten, um ihn zu retten. In „Wir Seezigeuner“ trifft die Sturmbraut schließlich sogar auf die Präsidenten von Argentinien und Uruguay, die im Grenzflussland eine private Bootstour machen. Hier ist die Ehre und nicht die Rettung Grund für die Entführung. Der brasilianische Admiral hat Jansen betrogen und ihm eine wertlose Ladung untergeschoben. Natürlich wird er verhaftet, muss spektakulär fliehen und flüchtet mit seinem Schiff durch die Flussland Landschaften am  La Plata schließlich zu einem Binnengewässer, wo er auf die Präsidenten trifft. Das Lösegeld ist die ausstehende Heuer und seine Schiffsuniform. Ehre muss gewahrt bleiben.

Schon vorher hat Robert Kraft mit dem „Kommodore“ Tischkoff eine geheimnisvolle Figur eingeführt. Jansen muss als freier Mann bedingungslosen Gehorsam schwören, um seine Freiheit wieder zu erhalten. Tischkoff gehört anscheinend einer geheimnisvollen Sekte mit indischen Wurzeln an. Er ist exzentrisch, zurückgezogen, intelligent, entschlossen, Geld- und Ratgeber zu gleich. In Form einer leuchtenden Kugel als Mittler zwischen einer Geheimgesellschaft und den Argonauten ist Stevenbrock auch in „Das Gauklerschiff“ quasi im Rahmen seiner Freiheiten ferngesteuert. Auch die Kugel gibt ihm Ratschläge und leitet ihn. Die Kugel gehört ebenfalls zu einer mächtigen, an eine Loge erinnernden Organisation.

Die Idee eines Zirkusschiffs findet sich in beiden Lieferungsromanen. In „Das Gauklerschiff“ dominiert die Idee, dass die Matrosen selbst Kunststücke lernen und von Hafen zu Hafen präsentieren. Dabei ist es eine Mischung aus Variete, Theater und Zirkus. In „Wir Seezigeuner“ realisiert der kleine Zigeunerjunge Karlemann diese Idee. Er hat ein Zirkusschiff ausgerüstet, mit dem er um die Welt fährt und eine deutlich perfektioniere Idee des Zirkus präsentiert. Neben dieser Grundidee tritt Robert Kraft in “Wir Seezigeneuer” zusätzlich eine faszinierende, legendäre Schiff Familie auf. In „Wir Seezigeuner“ hat Karlemann den Vorläufer des Kabellegers „Great Eastern“ gekauft und perfekt zu einem schwimmenden Zirkus mit Hebebühnen und einem Amüsierdeck umgebaut. In einer der früheren Lieferungen - gesammelt im ersten Hardcover - trifft Jansen auf einer Insel im Meer auf das fiktive Schwesterschiff der „Great Eastern“ , quasi der erste Versuch auf. Es liegt im festen Slick und dient einem indischen Prinzen als neues Reich voller Dekadenz und immerwährenden Vergnügen. 

In einer Felsnadel, Vogelberg genannt, finden Jansen und seine beiden Begleiter eine gigantische Anlage mit Verpflegung, Schätzen wie Gold und Seide, aber auch Waffen. Dazu kommt ein von See getarnter Zugang und im unterirdischen Hafen liegen Schiffe. Auch in “Das Gauklerschiff” finden Stevenbrock und seine Leute eine vergleichbare Anlage. Dieses Mal in der Nähe von Kap Hoorn. In “Atalanta” ist eine vergleichbar gigantische unterirdische Anlage allerdings am Sklavensee und damit nicht am Meer gelegen. Zusätzlich finden sich bei “Atalanta” allerdings eine Reihe von utopischen Spielzeugen wie ein 3 D Kino oder ein Fernsehmonitor, mit dem mittels Spiegeln eine Beobachtung nicht nur der unmittelbaren  Umgebung, sondern vor allem auch das Verfolgen von Menschen an fast jedem Platz der Erde möglich ist. Google Earth des Kaiserreichs.    

Sowohl in “Wir Seezigeuner” als auch später in “Das Gauklerschiff” wird der erzählende Held über Bord gespült und gerettet. In beiden Fällen von seinem Erzfeind, wobei Robert Kraft sich sehr viel mehr Zeit nimmt, dieses Szenario in den hier vorliegenden Lieferungen zu entwickeln. Eine geheimnisvolle junge und hübsche Frau namens Atlanta - vielleicht eine erste Anspielung auf den fünf Jahre später folgenden Roman “Atalanta- Die Geheimnisse des Sklavensees ? - rettet ihn. Der Leser ahnt schon durch die ersten Andeutungen, auf welchem Schiff sich Jansen jetzt befindet, aber die Szene endet grausam grotesk. Selten ist Robert Kraft ohne explizit zu beschreiben dunkler und brutaler geworden. Auch Jansens Rettung ist deutlich spektakulärer und spannender als in “Das Gauklerschiff”. 

In den beiden Kolporategromanen kämpfen die wackeren Helden auch gegen chinesische Piraten. Robert Kraft liebt die Doppelung und so werden die Chinesen auf die gleiche Art besiegt wie der erste Pirat mit dem bezeichnenden Namen Beserck. 

Interessant ist, dass bei “Wir Seezigeuner” Jansen eine hübsche Frau aus den Händen ihres Bruders -  dem angesprochenen Beserck - rettet, während in “Das Gauklerschiff” die Argonauten die Freundin eines ihrer Gäste aus der Hand der chinesischen Piraten retten. 

  Wie in allen Kolportageromanen Robert Krafts wechseln sich Spannung und aus heutiger Sicht ein wenig kindlich naive Komödie ab. So streiten sich zwei Amerikaner und kämpfen gegeneinander. Entweder als direktes Duell oder gerne auch mal mit bewaffneten Schiffen, was zu mehr als einem Dutzend Schwerverletzten und Toten führt. An Bord eines der versenkten Schiffe ist ein irisches Mannsweib, das unter der Besatzung der „Sturmbraut“ den mit ihrem Geld verschwundenen Ehemann nach Jahren wiederfindet. Nicht zu dessen Freude.

Auch Jansen wird mit seiner Braut konfrontiert. Inzwischen gehören ihr die Osterinseln und sie will ihren Seezigeuner wieder unter ihre Kontrolle bringen. Das lassen sich die Seezigeuner allerdings nicht gefallen und fliehen in einem kleinen Boot aufs offene Meer, teilweise nicht mal mit den Klamotten am Leibe. Das wirkt auf der einen Seite absurd komisch, auf der anderen Seite werden die dunkleren Handlungsstränge dieses Lieferungromans unterminiert. Auf die Spitze treibt es Robert Kraft in dieser Hinsicht, wenn der allgegenwärtige Klabautermann - Tischkoff pflegt ihn meistens in seiner Kabine - mittels Elektroschocks galvanisiert wird. Das kurzzeitige Erwachen hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die laufende Handlung und lustig ist die Szene auch nicht unbedingt. 

Die Reise der flüchtenden Seezigeuner führt schließlich von Patagonien kommend über die inzwischen in der Hand des Matriarchats befindlichen Osterinseln in die Südsee, wo sie nach Perlen suchen wollen. Dazwischen haben sie eine Meuterei auf einem britischen Dampfer aufgeklärt. Der Kapitän wurde ermordet, dessen junge Frau geschändet und in den Selbstmord getrieben. Begleitet wird diese Reise von seltsamen Nachrichten per Flaschenpost. In “Das Narrenschff” agiert die sprechende Kugel direkter, um Stevenbrock zum nächsten Ziel zu dirigieren. Absender der Nachrichten ist der reiche britische Exzentriker Seymor, der davon träumt, ein Königreich der Seezigeuner mit Jansen als deren König zu errichten. Dazu sammelt er Abenteurer aus aller Welt. Auch die beiden Duellanten befinden sich unter den potentiellen Freiwilligen. Seymor ist eine dieser charismatischen Nebenfiguren, welche dominanter sind als der Protagonist. So trägt er eine Weste aus der Haut des ältesten Menschen, seine Uhr hat die Zähne eines Massenmörders und seine Hose hat Nelson bei der berühmten Schlacht getragen. Er ist wie zum Beispiel Karl Mays Sir David Lindsey unendlich reich, auch wenn er mit seinem Geld noch weniger anfangen kann. Das Abenteuer liegt ihm im Blut. Die entsprechende Naivität auch, wie eine Expedition mit einem Ballon auf die Spitze des Vogelbergs zeigt. 

Die letzten Lieferungen dieses zweiten Sammelbandes präsentieren allerdings eine Seltenheit in Robert Krafts umfangreichem Werk. Immer wieder hat der Leipziger historische Ereignisse rückblickend in seine Geschichten eingebaut. Dazu sind ausführlich recherchierte, aber manchmal ein wenig schlampig präsentierte technische, geographische und manchmal auch soziologische Erklärungen  gekommen. Aber das eine Robert Kraft Figur aktiv an einem historischen Ereignis - wenn auch aufgrund eines Mißverständnisses - mitgewirkt hat, findet sich höchstens peripher in seinem Werk. 

Die “Sturmbraut” segelt nach Charleston am Vorabend des amerikanischen Bürgerkriegs. Viele der bislang präsentieren Nebenfiguren haben sich an diesem Ort gesammelt. Die Stadt wird quasi zum  Sammelbecken der Seezigeuner, die mit der Anzahl der Lieferungen in dieser Geschichte gerade inflationär zugenommen haben. Auch der englische Lord Seymor und seine Freunde sowie Lady Blowden sind in der Stadt. Natürlich muss auch Karlemann an Bord seines Zirkusschiffes Vorstellungen geben. Der Ruf der “Sturmbraut” ist legendär und jeder in der Stadt möchte Jansen als Blockadebrecher im herauf dämmernden den Krieg anheuern. Jansen gibt sich unpolitisch.  Lady Blowden lädt Jansen zu einer Aussprache ein, die allerdings wenig fruchtet, da er inzwischen sich in Atlanta verliebt hat. Nach einer Zirkusvorstellung werden Atlanta und Jansen überfallen, seine Braut entführt. Angeblich soll sie aufgrund von Lady Blowdens Initiative in der von der nordamerikanischen Truppen gehaltenen Festung oberhalb der Stadt gefangen gehalten werden. Hitzblütig überfällt Jansen erst mit einem Mob, später wird die Festung sogar von See beschossen, die Anlage und will seine Braut befreien. Sie ist aber nicht dort, der Angriff vor allem des mit dem Süden sympathisierenden Mobs ist aber der Funke, welcher schließlich den Bürgerkrieg auslöst. 

Die Sequenz endet in einer Jagd über die Meere und der Aufklärung eines jetzt für Jansen tragischen wie romantischen Missverständnisses. 

Es ist eine gute  dynamische Sequenz, mit welcher Herausgeber Dieter von Reeken den zweiten Sammelband von “Wir Seezigeuner” enden lässt. Auch wenn die Geschichte eigenständig, spannend und vor allem abwechslungsreich ist,  kann man die hier gesammelten Lieferungen auch als eine Art kreativen Steinbruch bezeichnen, aus dem sich Robert Kraft teilweise extrapolierend, teilweise aber auch im Vergleich zum Original raffend immer wieder bedient hat. Es finden sich Andeutungen hinsichtlich futuristischer Technik - ein Schiff könnte mit einem Wasserstrahlantrieb laufen, Spiegel ermöglichen eine Rundumsicht -, aber  im Vergleich zu späteren Lieferungsromanen werden sie (noch) nicht weiter ausgebaut und detaillierter beschrieben. 

Wie die Sammlung “Aus dem Reich der Fantasie” sind die Abenteuer Jansens in “Wir Seezigeuner” ein sehr guter Einstieg in den reichhaltigen Robert Kraft Kosmos und die hier präsentierte Zusammenstellung durch Dieter von Reeken die empfehlenswerteste Ausgabe, auch wenn die roten gekürzten Bände des Robert Kraft Verlags antiquarisch noch preiswerter im Umlauf sind. 

 





Robert Kraft
Wir Seezigeuner
Die Erlebnisse des Steuermanns Richard Jansen aus Danzig. Nach seinen Aufzeichnungen bearbeitet.
Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung (Hardcover) des erstmals 1907 in 52 Lieferungen zu je 62–72 Seiten (= 3.342 Seiten) erschienenen mit 164 Graustufenbildern von Adolf Wald illustrierten Lieferungsromans in 4 Bänden.
Je Band ca. 540 Seiten, je 37–48 Abb.,

Band 2 (Kapitel 44–85), 531 S., 38 Illustrationen

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