Kernschatten

Nils Westerboer

Nach dem Erfolg von Nils Westerboers „Athos 2463“ legt der Klett Cotta Verlag im Rahmen der der Hobbit Presse Nils Westerboers 2014 in einem Kleinverlag veröffentlichten Erstling „Kernschatten“ neu auf. Der Autor hat diesen 2015 für den Deutschen Science Fiction Preis nominierten Roman für die erneute Veröffentlichung grundlegend überarbeitet.

Bis auf den Prolog spielt die Handlung im russischen Polarmeerhaften Murmansk. Strahlung (insbesondere von der verrottenden Nordmeerflotte im Hafen) ist an diesem Ort nichts Besonderes. Und trotzdem hat eine Gruppe von russischen Wissenschaftlern, die am CERN in Zürich geforscht haben, eine Entdeckung aus der Schweiz mitgebracht,  welche die klassische radioaktive Verseuchung wie eine Verbrennung erscheinen lässt.

Neben einem einzigen Handlungsort nutzt Nils Westerboer eher impliziert als offen noch ein anderes klimatisches Phänomen: Dreiundzwanzig von vierundzwanzig Stunden sind zu dieser Jahreszeit dunkel, Nacht. Zwar betont der Autor diese Tatsache nicht immer wieder und die Protagonisten haben sich an dieses Phänomen gewöhnt, aber spannungstechnisch eröffnet es Nils Westerboer in den wenigen Verfolgungsszenen des grundsätzlich dunklen Wissenschaftsthrillers neue, vor allem auch natürliche Möglichkeiten, ohne das die Handlung an Tempo verliert.

Der Autor operiert in der Tradition eines Michael Crichton zwar mit zwei, längere Zeit nicht unbedingt miteinander verbundenen Handlungssträngen, die spätestens ab der Mitte des Buches nicht nur untrennbar miteinander verbunden sind, sondern mindestens mittelbaren Einfluss aufeinander haben. Dabei haben die Leser nicht unbedingt einen Wissensvorsprung gegenüber den Protagonisten der jeweils zweiten Handlungsebene. Die Leser haben in der ewigen Nacht einen etwas besseren Durchblick. Aber mehr nicht.

Kolja Blok ist ein überarbeiteter Polizist in Murmansk. Er wird zu einer erfrorenen Leiche in einem heruntergekommenen Fabrikgelände gerufen. Für die Kollegen ein Obdachloser, der erfroren ist. Er trägt vier Schichten Kleidung am Leib, keine Papiere und macht einen verwahrlosten Eindruck. Kolja Blok stolpert über ein Schlüsselbild mit einer besonderen Marke. Außerdem ist die Kleidung, welche der Tote trägt, erstaunlich neu und von guter Qualität. Bei seinen Untersuchungen wird Kolja Blok erkennen, dass die Marke am Schlüsselbund aus dem Forschungszentrum CERN in Zürich stammt. Und die Schlüssel sind überwiegend Sicherheitsschlüssel.

In einem anderen Viertel der Stadt bittet ein verwirrter junger Mann den Angestellten in einem Entwicklungsstudio um das Belichten eines Films. Auf klassisch analoge Art und Weise. Und umgehend. Dreiundzwanzig der vierundzwanzig Fotos zeigen eine wunderschöne Frau. Nur auf dem letzten Bild des Films sieht man Lüftungsrohre an einer Fabrikhalle. Neugierig folgt er dem Mann zuerst in die Wohnung der Frau. Später nehmen die beiden die Suche nach dem verschwundenen Ehemann auf, der nur eine kryptische Nachricht an ihrer Tür hinterlassen hat. Der einzige Beweis ist das vierundzwanzigste Foto, das der Entwickler bei sich  behalten hat.

Lange Zeit verzichtet Nils Westerboer auf die Klischees des Spionage Thrillers mit den geheimnisvollen Agenten und der brutalen Obrigkeit. Der Autor konzentriert sich auf die klassischen Elemente des Spannungsthriller. Dank des ominösen Prolog weiß der Leser, dass die Forscher im CERN in Zürich eine spektakuläre, aber auch eine Furcht einflößende Entdeckung gemacht haben. Das Gefahrenpotential lässt sich bis zum stringenten Finale für die Leser im Gegensatz zu den Protagonisten allerhöchstens erahnen.

 Der Autor baut seinen Roman auf erstaunlich dreidimensionalen, bodenständigen Protagonisten auf. Kolja Blok ist ein klassischer, zynischer Polizist, der seinen Job allerdings genau macht. Er hat keine Familie, gehört nicht der Partei an und lässt sich nicht gerne von seinen Vorgesetzten gängeln. Aber er hat auch das Vertrauen seines Chefs und dieser lässt sich ermitteln, weil er seinen Instinkten traut. Auch wenn er ständig müde ist, mit den Strukturen der neuen Sowjetunion nichts anfangen kann und keine Angst vor Vorgesetzten hat, agiert er teilweise ein wenig zu pragmatisch. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wenn ein außer Kontrolle gleiten des Falls in seinem Sinne wäre, um nicht die üblichen verdächtigen einzusammeln und gegenüber den im Hintergrund agierenden Mitglieder des russischen Geheimdienstes sein Gesicht zu wahren, während er gleichzeitig den Fall unbedingt lösen möchte. Sein bester Freund und Helfer arbeitet ausgerechnet in einer niedrigen Position in der Pathologie, obwohl er vom Intellekt her auch ein erfolgreicher Arzt sein könnte. 

Mika Mikkelsen arbeitet in einem Atelier als Fotograf und Entwickler. Er weiß, dass er unterfordert ist, aber der  Job wird gut bezahlt. Die Fotos der jungen Frau – Irina Rosenblum – erregen seine Aufmerksamkeit. Sie wird zu einer Obsession. Er muss eines ihrer Bilder haben und zieht beim Diebstahl das falsche Bild aus dem Umschlag. Nach der Begegnung mit Irena folgt er ihr. Will ihr helfen, auch wenn sie offensichtlich verheiratet ist und ihren distanzierten Mann noch liebt. Über Irenas Hintergrund erfährt der Leser erst während eines Verhörs durch die örtliche Polizei. Hier fügen sich weitere Puzzlestücke des Thrillers zusammen. Mika Mikkelsen weiß, dass er mit dem Diebstahl seinen Job riskiert und das seine obsessive Verehrung von Irena (noch) nicht erwidert wird, aber er kann dieser schönen, aber keinesfalls als Femme Fatale agierenden Frau auch nicht widerstehen.

Irina Rosenblum ist vielleicht die faszinierendste Figur des ganzen Romans.   Sie ist schön, eine ausgebildete Musikerin und steht noch zwischen zwei Männern, die gemeinsam forschen. So sucht ihren vor Monaten verschwundenen Mann. Ihr Nachbar stalkt sie. Sie hat Angst vor dem nächsten Schritt, will ihren  Mosche aber auch nicht alleine lassen. Sie trägt die klassischen melancholischen Züge der waidwunden russischen Seele in sich, auch wenn sie gleichzeitig eine moderne und unabhängige Frau ist.  

Der Plot gewinnt am Ende an Tempo. Nils Westerboer muss allerdings auch ein wenig den Mantel des Geheimnisses lüften und bewegt sich mit einer neuen, tödlichen Intelligenz Form auch am Rande des Klischees.  Die Reise wäre interessanter als das langgestreckte Finale an einem Strand, übersät mit  Schiffswracks. Von poetischer Stimmung keine Spur. Die Bedrohung wird eher ambivalent beschrieben und angesichts der verschiedenen Vorfälle erscheint es unwahrscheinlich, dass die lebensgefährlichen Bemühungen der Wissenschaftler und Mika Mikkelsen am globalen Szenario etwas ändern. Die Büchse der Pandora ist schon lange geöffnet. In einigen Situationen folgt der Autor zu sehr den Gesetzen des Horrorfilms, in dem er Bedrohungen kreiert, die dank der Improvisation der Protagonisten auch mittels Feuerlöschern ausgeschaltet werden können. Ob es sich um Pyrrhussiege handelt, lässt der Plot offen. Michael Crichtons Roman “Next” sei hier stellvertretend genannt, auch wenn Nils Westerboer eine deutlich ambivalente, aber auch mehr ambitionierte Erklärung gesucht und gefunden hat. Es ist nicht Frank Schätzings “Schwarm”, den der Leser vor sich hat. Es ist ohne Frage ein sehr schwieriger Grat, auf dem sich der Autor mit diesem Erstling bewegt. Die erste Hälfte des Buches hat deutlich gemacht, dass weniger sehr viel mehr ist. Auf der anderen Seite erwarten die Leser gegen Ende nicht unbedingt umfassende Erklärungen, aber eine Konkretisierung der Bedrohung, welche die Wissenschaftler in der geheimen Forschungsanstalt in blanke Panik versetzt. Und sie zum “Veruntreuen” der staatlichen Gelder zwingt, denn sie wollen nicht mehr weiterforschen, sondern die potentielle Bedrohung eindämmen. Und das kostet auch sehr viel Geld. 

“Kernschatten” präsentiert sich als stringenter, gut zu lesender und phasenweise extrem packender  Thriller vor einem ungewöhnlichen Hintergrund mit gut gezeichneten, dreidimensionalen Protagonisten. Auch die Nebenfiguren hat Nils Westerboer mit markanten Zügen ausgestattet. Vielleicht wirkt das Ende der Handlung rückblickend ein wenig vertraut, aber dafür präsentiert der Autor als Entschädigung sehr viel Dramatik und Selbstopferung auf den letzten Seiten.    

 

Kernschatten

  • Herausgeber ‏ : ‎ Klett-Cotta; 1. Auflage 2023 (18. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3608986901
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3608986907