Mit seiner das Sujet eröffnenden, aber nicht gänzlich umfassenden Studie zum Sittenroman im Leihbuch nach 1945 legt Jörg Weigand einen im Grunde weiteren Teil seiner Studien zum Phänomen Leihbuch und dessen einzelnen Ausrichtungen vor. Im Gegensatz zu den vielen offen erkennbaren Genres wie Science Fiction – von Jörg Weigand auch in mehreren Studien untersucht – oder Krimi oder Western ist der so genannte Sittenroman eine Art Grenzgänger. Die Leihbücher konzentrierten sich vor allem auf Männerlektüre als auch Frauenlektüre. Im Laufe seiner Studie stellt Jörg Weigand aber auch klar, dass einige der Leihbücherverlage Reihen für Jugendliche konzipierten, um sie quasi anzufüttern. Höhepunkt ist die Reklame für eine solche Buchreihe quasi auf dem Rücken eines durch die Bundesprüfstelle indizierten Sittenromans.
Der Sittenroman lässt sich quasi beiden literarischen Zielrichtungen zuordnen. Sowohl die Begierden der Männer als auch die meistens sexuellen Interessen der Frauen sollten abgedeckt werden. Im Gegensatz zum Liebesroman ging es auch mehr um das Eine, nicht selten vor allem in der Frühphase dieses Subgenres zwischen 1950 bis 1953 um die sexuelle Nötigung, die unfreiwillige Prostitution und schließlich auch die sexuelle Gewalt nicht selten in Form von Auspeitschungen und anderen Fetischhandlungen angereichert. Und die Autoren beließen es nicht nur bei Andeutungen, auch wenn diese Texte mit heutigen pornographischen Romanen nicht mehr vergleichbar sind.
Jörg Weigand macht wie in seinen anderen Studien klar, dass er kein Soziologe ist und an einer in die Tiefe gehenden Betrachtung dieses Subgenres nicht interessiert ist. Wahrscheinlich ist es heute auch nicht mehr möglich, mit einer klaren Gewissheit alle zu diesem ambivalent zu betrachtenden und definitionstechnisch auch schwierig abzugrenzenden Genre gehörenden Romane aufzulisten und intensiv zu analysieren. Viel mehr geht es Jörg Weigand bei dieser lesenswerten und als Einstieg ausreichend kompakten Studie um zwei andere Themen.
Einmal eine Art roten Faden, eine Definitionsbasis zu finden. Ab welchem Moment unterscheidet sich der Sittenroman von der Liebesgeschichte. Das wirkt zwar paradox, aber nicht selten basieren ja damals wie heute auch Liebesgeschichten auf der Hoffnung, irgendwann Licht am Ende des Gefühlstunnels zu sehen, Fehler zu erkennen und schließlich in die Arme des Richtigen zu sinken. Jörg Weigand stellt richtig klar, dass selbst Thomas Mann mit seinem nicht abgeschlossenen Felix Krull eine Art Sittenroman geschrieben hat. Wie bei Thomas Mann, dessen erste Entwürfe zu diesem Roman aus dem Anfang seiner Karriere stammten und erst in den fünfziger Jahren wieder aufgenommen worden sind, haben sich die Autoren entweder Inspiration aus den wilden zwanziger Jahren geholt oder zum Teil handelt es sich auch um Texte aus dieser Zeit.
Jörg Weigand geht – so weit es irgendwie geht – konzeptionell an das Thema ran. Neben der obligatorischen Einführung in das Leihbuch – Leser seiner verschiedenen Studien wie „Träume auf dickem Papier“ werden diese Punkte kennen und können sie auch überblättern - versucht Jörg Weigand die in Frage kommenden Inhalte abzugrenzen. Alleine dieser Punkt ist schon keine leichte Aufgabe. Das liegt einmal an der Tatsache, dass wie erwähnt nicht alle Publikationen unabhängig von der jahrzehntelangen Arbeit verschiedener Sammler erfasst werden können, und zweitens an den für dieses Subgenre fließenden Grenzen. Die Verlage und schließlich auch die Verlage in Kombination mit ihren Autoren aus der Perspektive der spezifischen Werbung bilden den Schwerpunkt der nächsten Kapitel.
Der Autor macht auch noch einmal deutlich, dass Leihbüchereien – egal ob als eigenständige Betriebe als Teile von Kiosken oder sogar Tankstellen – im Gegensatz zu den kostenlosen öffentlichen Büchereien sich ja um Marktlücken kümmern sollte. Einfach gesprochen verliehen sie die Träume, welche den staatlich geförderten Büchereien nicht angemessen genug erschienen sind. Vielleicht lässt sich der Sittenroman Jörg Weigand folgend auch ganz einfach erfassen. Das Ausleihen dieser Bücher war schlicht und ergreifend teurer. Vom Verlag bewusst so gesteuert. Nicht, damit Jugendliche es schwerer hatten. Jörg Weigand macht deutlich, dass selbst das Ausleihen von normalen Leihbüchern mit 30 Pfennigen für viele Menschen einen Kraftakt darstellte, sondern um einen Reiz zu wecken. Dazu gehören natürlich auch die reißerischen Klappentexte, mit denen eine Erwartungshaltung geweckt wurde, welche einige oder viele dieser Sittenromane nur bedingt erfüllen konnten. Die zahlreichen Zitate aus den Werbetexten, aber auch den eigentlichen Büchern geben dieser Studie das lebendige, das notwendige dreidimensionale Bild, um am Thema Leihbuch interessierten Nichtsammlern einen ausreichenden, vielleicht auch ausschnitttechnisch sehr tiefen Einblick in das Sujet zu geben.
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Aufeinandertreffen von Sitte und Moral in Form der Bundesprüfstelle für jugendgefährdenden Literatur und dem Sittenroman. Jörg Weigand macht in den folgenden Kapiteln deutlich, dass es sich um eine Art Rennen zwischen Hase und Igel handelte. Unterbesetzt und auf Hinweise aus der „Bevölkerung“ angewiesen lief die Behörde dem Markt kontinuierlich hinterher. Manchmal vergingen Jahre zwischen der Veröffentlichung eines Leihbuchs und der erfolgreichen Indizierung. In einigen Fällen gab es den Verlag nicht mehr.
In einem Abschnitt des Buches stellt Jörg Weigand noch einmal die Bundesprüfstelle inklusive des Volkwartsbundes und ihre Aufgaben vor. Im nächsten erhellenden Abschnitte finden sich sehr viele Beispiele von durch die Prüfstelle verbotenen Romane. Dabei konnte Jörg Weigand nicht nur auf Material der Prüfstelle inklusive ihrer Begründungen zurückgreifen, sondern vergleicht die beanstandeten Textstellen mit der Realität der Bücher. Nicht selten wurde da ein wenig geschludert. Interessant ist, dass teilweise die Prüfstelle sogar Autoren per se unabhängig von ihren Werken auf den Index gesetzt hat. Frei nach dem Motto, wer sechsmal drauf ist, kann auch gleich zum siebten Mal auf die Sünderbank. Mit einer historischen Hexenverfolgungsserie setzt sich Jörg Weigand in dem abgesonderten Teilkapitel „Ein spezieller Fall“ auseinander. Während verschiedene Vertreter inklusiv der Kirche gegen die Indizierung der anscheinend von einem Frankfurter Rechtsanwalt in seiner Freizeit geschriebenen Serie gewesen ist, hat die Prüfstelle die trotzdem auf den Index gesetzt.
Die Vorstellung der durch Gerichtsentscheid verbotenen Romane ist ausführlich. Jörg Weigand hat sichtlich Vergnügen, sowohl aus den Büchern ausführlich zu zitieren und die beanstandeten Stellen damit in den entsprechenden Kontext zu rücken, wie auch teilweise Originaldokumente – allerdings hinsichtlich der potentiellen Denunzianten meistens schon von Amtswegen geschwärzt – abzudrucken. Dabei kann sich der Chronist Jörg Weigand manchmal eines Kommentars nicht enthalten.
Der zweite kürzere Teil des Buches umfasst eine soweit möglich kurze Vorstellung der Autorinnen und Autoren des Sittenromans inklusiv der Zuordnung von Büchern zu ihren Pseudonymen. Nicht alle Autorenidentitäten konnten aufgedeckt werden, aber wie Jörg Weigand immer wieder betont, seine Studien dienen erstens als Einstieg und sollten als eine Art Work in Progress angesehen werden. Immer wieder tauchen aus Nachlässen verstorbener Autoren oder auf Flohmärkten, Sammlungsauflösungen und Antiquariaten Bücher genauso wie Informationen auf, welche das Sujet ergänzen. Nicht umsonst ist die jährlich stattfindende Offenbacher Leihbuchmesse anscheinend eine heute noch derartig lebendige Quelle, das es wichtig ist, diese Informationen zu ordnen und wie Jörg Weigand es macht, auch schriftlich niederzulegen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.
Neben den Autoren und ihren Werken findet sich eine illustrierte Bibliographie der Sittenromane und schließlich neben der Liste der indizierten Sittenromane auch ein Titelregister. Die Wiedergabe der plakativen wie das Interesse der Leser provozierenden Titelbilder ist wieder exemplarisch und gibt dem teilweise durch die langen Begründungen der Prüfstelle trockenem Thema ausreichend Tinte auf den Füller.
Rainer Schorm schließt Jörg Weigand Studie mit einem Nachwort ab, das aber irgendwie angehängt erscheint. Jörg Weigand selbst hat mit seinem Kommentar vor dem zweiten Fakten umfassenden Teil dieser Studie alles geschrieben bzw. gesagt.
Wie alle bisherigen von Jörg Weigand zum Thema Leihbuch verfassten Studien eignet sich dieser Band für beide Lesergruppen. Die Sammler werden zusätzliche Informationen finden, die breite Masse wird ausreichend in der Breite und bei einigen Punkten gut in der Tiefe informiert.
Vor allem die Gegenüberstellung von beanstandeten Inhalt und den entsprechenden Urteilen erscheint aus heutiger Sicht überzogen, aber der Kampf zwischen freier Marktwirtschaft und Bundesprüfstelle beschränkt sich ja nicht nur auf Leihbücher, sondern hat über Spinrads „Der stählerne Traum“, die Horrorcomics schließlich die Gegenwart mit den Computerspielen erreicht. Jörg Weigand hat es allerdings ein wenig leichter. Aus heutiger Sicht wirken die beanstandeten Texte zwar moralisch verwerflich, aber nur selten werden explizierte Sexszenen beschrieben. Nicht selten handelt es sich um schnell herunter geschriebene Machwerke, welche die Instinkte der Leser kurzzeitig befriedigen sollen. Interessant ist, dass nicht selten die gehobene Bürgerschicht aktiv in diese unsittlichen Geschehnisse literarisch verwickelt ist. Von einer Gesellschaftskritik zu sprechen, ginge bei den vorliegenden Zitaten zu weit, aber einige der Schmuddelautoren haben ihren Spaß, dem Spießbürgertum weiterhin den Eulenspiegel ins Gesicht zu halten und ihre Moralvorstellungen als Farce zu entlarven.
Mit „Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie“ schließt ein weiteres, bislang nicht behandeltes Thema der Trivialliteratur in Deutschland informativ wie kompakt auf, aber wie Jörg Weigand selbst schreibt bei weitem nicht ab.
- Herausgeber : Reeken, Dieter von; 1. Edition (22. April 2021)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 209 Seiten
- ISBN-10 : 394580759X
- ISBN-13 : 978-3945807590