Kim Stanley Robinsons neuer epochaler Roman „2312“ ist ohne Frage der literarisch herausfordernde Höhepunkt seines Schaffens in den letzten fünfzehn Jahren. Auch wenn der Amerikaner als Kompromiss seinen Lesern auf den ersten Blick eine Kriminalhandlung anbietet, welche eine der wichtigsten Protagonistinnen zu unterschiedlichen Planeten und Monden des Sonnensystems führt. Auch wenn es keine direkten Bezüge zu der vergleichbaren „Mars“ Trilogie gibt, ist „2312“ im Kern eine Extrapolation des erfolgreichen abgeschlossenen Terraforming Prozess. In „Antarctica“ und der Umweltkatastrophen Trilogie, dessen Markenzeichen die rückwärts laufenden Tage bis zum „Point of no Return“ hinsichtlich einer gigantischen Umweltkatastrophe sind, hat er verschiedene politische wie naturwissenschaftliche Themen gestreift und die für „2312“ relevanten, aber nicht unumstößlichen Grundlagen erarbeitet. Erzähltechnisch versucht Robinson die Fugen bzw. Mosaikromane eines John Brunners wieder zu beleben, in dem er tatsächliche Fakten mit der grundsätzlich interessanten, aber keinem klassischen Spannungsmuster folgenden Handlung kombiniert. In diesen semirealistischen Passagen verweigert Robinson dem Leser einfache Antworten. Wie bei einem Puzzle muss der Leser diese Fülle von Informationen einordnen, bewerten und in die Handlung einpassen. Nicht immer mit gänzlich ernstem Hintergrund beschreibt der Amerikaner den Menschen der Zukunft noch immer als das schwächste Element der futuristischen Entwicklung, gibt ihm aber die intellektuelle Chance, sich weiter zu entwickeln. Vielleicht ist „2312“ das Sprungbrett für einen abschließenden Roman, der – ein Fakt, der in Robinsons Werk bislang gänzlich fehlt – die Menschheit beim Verlassen des Sonnensystems zeigt. Alleine der Hintergrund des Buches ist gigantisch. Robinsons Grundlage ist die Gegenwart. Schon in der „Mars“ Trilogie hat er nachhaltig verdeutlich, wie lange die Prozesse im All wirklich dauern und welche Opfer die einzelnen Generationen auf dem Weg zu einer nicht immer wirklich blühenden Zukunft bringen müssen. Im Gegensatz allerdings zu „Mars“ Trilogie greift Robinson auf ein Idee der modernen Science Fiction zurück: die Einführung der Singularität, die Idee einer System übergreifenden künstlichen Intelligenz, die Hüter der Ordnung und Angriffspunkt der Außenseiter zu gleich ist. Schon in der „Mars“ Trilogie, die am ehesten als Vergleich hinzugezogen werden kann, hat Robinson die einzelnen, sehr unterschiedlichen Strömungen bei der Besiedelung eines Planeten mit unwirtlichen Bedingungen beschrieben. In „2312“ hat der Mars die Erde überflügelt Trotz oder gerade wegen seines heißen unwirtlichen Klimas ist das Terraforming nicht nur zu einem Erfolg geworden, die Welt hat sich als Rohstoff reicher als erwartet gezeigt. Da die Bevölkerung nach strengen Kriterien ausgesucht und auf einem für den Planeten akzeptablen Niveau gehalten worden ist, fällt dem roten Planeten die komplette Ausbeutung der Bodenschätze, die Überbevölkerung und damit einhergehend eine Verschiebung der sozialen wie wirtschaftlichen Brennpunkte in die sich immer stärker ausbreitende Dritte Welt. Robinson impliziert, dass die Mutter Erde sich selbst bei der Expansion ins Sonnensystem übernommen und die Kinder in eine bessere Zukunft entlassen hat. Höhepunkt dieser technologisch sich stark unterschiedlich entwickelnden Gesellschaft ist ohne Frage die gigantische Stadt „Terminator“, die auf dem Merkur den tödlichen Strahlen der nahen Sonne kontinuierlich entflieht und über den Planeten kriecht. Hier finden sich Ideen aus Christopher Priests Frühwerk wieder. Mit den tödlichen Herausforderungen des Merkurs hat sich eine neue Kultur von Adrenalinjunkie ausgebildet, die über die Oberfläche des kleinen Planeten gleiten, um möglichst nahe den harten Sonnenschatten zu leben und doch im Schutz des Planetenschattens überleben zu können. Zwischen den beiden Extremen des Mars als älteste Kolonie der in die Bedeutungslosigkeit gefallenen Erde und der Exzentrik des Merkurs steht die Venus als fortschreitender Terra Forming Prozess, der den Siedlern die ersten Annehmlichkeiten präsentiert, aber im Vergleich insbesondere zum roten Planeten noch rudimentär und in Bezug auf die durch Umweltzerstörung fast unbewohnbare Erde eher wie die Hölle erscheint. Außerhalb des Asteroidengürtels auf den Monden des Saturns gibt es wenige Habitate, mit denen aus dem Inneren des Systems zwar ein reger Handlung betrieben wird, die Ausbeutung der Bodenschätze allerdings im Vordergrund steht. Im Vergleich zu den gefestigten politischen Systems innerhalb des Asteroidengürtels herrscht auf den Monden der äußeren Planeten mehr Anarchie und Überlebenskampf vor, auch wenn die Erfindung/ Entwicklung lebensverlängernder Medikamente das soziale Leben auch auf diesen unwirtlichen, aber für den Leser zugänglicheren Außenposten attraktiver gemacht worden ist. Ohne Frage ist der wirtschaftlich soziale Hintergrund, den Robinson mit der bekannten Liebe, teilweise auch Manie zum Detail zeichnet, für den Leser herausfordernd, interessant, provozierend und angesichts der Vielzahl von Fakten auch ermüdend. Nicht jede Hintergrundinformation wird für den eigentlichen Plot benötigt. Nicht selten hat man das unbestimmte Gefühl, als könne der „Wissenschaftler“ Robinson auf die Handlung des „Literaten“ Robinson gut verzichten, um nur eine möglichst komplexe, ohne Frage dreidimensionale und verblüffende Zukunftsversion zu erschaffen, in der „Menschen“ wahrscheinlich irgendwann auch leben könnten. Es ist keine wunderbare Zukunft, die Robinson malt. Es ist eine realistische Zukunft, deren Weg mit Herausforderungen in allen Bereichen, aber auch technologischen Wundern und sozialen Abzweigungen gepflastert ist.
Die einzige Möglichkeit, diese Zukunft wirklich überzeugend mit Leben zu erfüllen, ist die Idee einer Quest, die sich schließlich zu einem potentiellen Mord erweitern lässt. Auf dem Merkur stirbt sehr überraschend Swan Er Hongss einflussreiche Großmutter. In ihrem Erbe finden sich verschiedene Botschaften unter anderem auch an ihre Enkelin, die Swan bis zu den Monden des Saturns an verschiedene Kolleginnen und Kollegen der Verstorben persönlich überbringen muss. Diese Grundidee aus einem Pulproman des 19. Jahrhunderts wirkt ausgesprochen konträr zu der „klinisch reinen“, unpersönlichen Zukunft, die Robinson in seinen vielen Romanen gezeichnet hat. Alleine in der Klimawandeltrilogie ist die persönliche Kommunikation eines der entscheidenden, verbindenden Elemente der sehr unterschiedlichen Protagonisten. Auf dem Saturn trifft Swan unter anderem den Botschafter Fritz Wartham sowie den Inspektor Jean Genette, der verschiedene Ereignisse in Verbindung mit dem Tod von Swans Großmutter sieht. Als unter anderem Terminator während ihres Aufenthalts wieder auf dem Merkur zerstört wird, ahnen sie, das nicht nur eine gigantische Verschwörung in Gange gekommen sind, sondern das Kräfte eine Rückkehr zu den Wurzeln auf der Erde und eine Revitalisierung des dortigen Ökosystems initiieren wollen, die gegen den Willen der auf der Erde verbliebenen Menschen erfolgen soll und dementsprechend auch erfolgen muss.
Diese anscheinend postkapitalistische Welt – kein Geldtransfer, keine ökonomischen Diversifikationen – ist bevölkert von einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Charaktere, die der Leser ausschließlich aus der Perspektive der drei erwähnten Protagonisten kennen lernen wird, wobei ein wichtiger Aspekt dieser zahlreichen, manchmal auch ermüdend übertrieben erscheinenden Begegnungen die innere Wandlung der anfänglich absichtlich klischeehaft überzeichneten Swan ist. Neben der angesprochenen Quest versucht Kim Stanley Robinson subjektiv auch eine „Coming of Age“ Geschichte in die Handlung zu integrieren, wobei dieser Aspekt geschickt eher eine Aufklärung des Lesers über die Kultur des 24. Jahrhunderts ist. Swan verändert sich von der vorgeblich affektierten knapp zwanzig Jahre alten jungen „Göre“, für die Adrenalin in Extremsporten der wichtigste Aspekt des Lebens ist, zu einer ihm wahren Alter – mehr als einhundert Jahre – alten Frau. Sie hat sich auf die Konzeption von ökologischen Nischen spezialisiert. Robinson gelingt es, die Figur zugänglicher, dreidimensionaler zu machen, wobei die wachsende Zuneigung zum erfahrenen Diplomaten Fitz Wartham nicht in der Theorie zu einer Liebesbeziehung führt. Robinsons überdimensionale Protagonisten tragen in sich neben einer Vielzahl unterschiedlichster Emotionen eine Basis, eine Verantwortung nicht nur für das eigene Leben, sondern zumindest in der Mars Trilogie für die kleine zum roten Planeten ausgewanderte Gruppe und die kommenden Generationen, in der Wettertrilogie für ein Überleben der Menschheit, das schließlich in einem „2312“ ähnlichen Szenario gipfeln könnte und im vorliegenden Epos für eine Rückkehr der Menschheit in der Schoss von Mutter Erde.
Die Kriminalhandlung wird als lockerer roter Faden relativ schnell die zahlreichen Ideen untergeordnet, die Robinson in diesem fesselnden wie anstrengenden Kaleidoskop einer fernen und doch irgendwie auch vertrauten Zukunft entwirft. Nicht immer werden diese verschiedenen Facetten der Zukunft für den Leser zufrieden stellend extrapoliert. Es bleibt bei manchmal ironisch untermalten Anspielungen, Querverweisen oder absurd erscheinenden Mutationen insbesondere gegenwärtiger politischer Extremspielarten. „2312“ will weniger unterhalten als provozieren. Den Leser erwartet ein Geduldsspiel, das nur funktioniert, wenn er sich auf die Prämisse einer extrem zersplitterten, diversifizierten Menschheit einlässt und die verschiedenen Aspekte des Lebens im Alls akzeptiert. In dieser Hinsicht folgt der Entwurf Paul McAuleys deutlich bodenständiger entwickelten Duo- Roman „The Silent War/ Gardens of the Suns“, um am Ende die Protagonisten und Menschen nicht auf die Schwelle der nächsten Existenzebene zu führen, sondern ihnen und damit dem Leser bewusst zu machen, was sie mit dem Verlassen einer ausgebluteten Erde hinter sich gelassen haben. Kein einfacher Roman, vielleicht nicht einmal eine gänzlich Zufriedenstellende literarische Arbeit – dazu wird der eigentliche Plot zu sehr als Mechanismus, als Türöffner, aber nicht als roter Faden benutzt - , aber ein fesselndes Portrait einer fernen Zukunft, die auf für den Leser nachvollziehbaren Wurzeln basiert.
- Taschenbuch: 592 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (11. März 2013)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453314352
- ISBN-13: 978-3453314351
- Originaltitel: 2312