Im Rahmen seiner Nero Wolfe Serie publiziert der Klett Cotta Verlag mit „Zyankali vom Weihnachtsmann“ keinen weiteren Roman, sondern eine Novelle um den gewichtigen Detektiv und seinen Helfer.
Der Text erschien ursprünglich unter dem Titel „The Christmas- Party Murder“ in der letzten Ausgabe des „Collier´s Magazine“ am 04. Januar 1957. Das Titelbild dieser Ausgabe mit einer Szene aus der Nero Wolfe Novelle ist in schwarzweiß nachgedruckt. Im Internet gibt es verschiedene farbige Abbildungen dieses sehenswerten Bildes.
In Buchform erschien die Novelle Jahre später in der Sammlung „And four to go“.
Der Verlag hat seiner Veröffentlichung ein langes Nachwort Franz Dobler hinzugefügt. Da Franz Dobler auch auf den Täter eingeht, sollte es nach der Novelle gelesen werden. Franz Dobler stellt einige der kleinen, heute wahrscheinlich leicht zu übersehenden politischen Querverweise heraus. Es gibt einige Informationen zu Rex Stouts Bemühen, auf der einen Seite mit Nero Wolfe und seinem stetig gleich bleibenden Umfeld eine Art kriminaltechnischen Anachronismus zu erschaffen, auf der anderen Seite den gewichtigen Detektiv immer auf der Höhe der Zeit agieren zu lassen.
Ansonsten erschlägt Franz Dobler auf eine nicht immer befriedigende Art und Weise möglichst viele Themen endend bei Kriminalweihnachtsgeschichten und beginnend bei den Hinweisen auf die Flüchtlingsmisere über den Schutz der Weihnachtsmärkte nach dem Anschlag von Berlin bis zu realen Morden an den Festtagen, die allerdings sich hinter einem Link zu Wikipedia verbergen. Diese Sprunghaftigkeit frustriert ein wenig und der ganze Text wirkt in der vorliegenden Form ungeordnet.
Die Novelle selbst zeigt die Stärken und teilweise auch Schwächen der Nero Wolfe Serie. Auch wenn der gewichtige Phlegmatiker ein herausragender Detektiv ist, der nur selten den Tatort aufsuchen muss, neigt er im Gegensatz zu einigen anderen markanten Ermittlern wie Sherlock Holmes oder Poirot zur Improvisation. Während des Finales macht er deutlich, dass er sich nicht sicher ist, wer aus dem Kreis der versammelten Personen den Mord wirklich begangen hat. Es gibt keine stichhaltigen Beweise, es gibt aber sehr viele Motive. Trotzdem gelingt es ihm auf dieser Basis den Täter schließlich zu einer Reaktion zu bewegen. Rex Stout kommt immer wieder bei der Planung seiner Geschichte zu Gute, dass es sich selten um professionelle Auftragskiller handelt. Es sind „normale“ Menschen, die entweder lange geplant oder aus dem Affekt heraus ihre Taten begehen und sich deswegen durch ihre Reaktionen verraten.
Ohne diesen menschlichen Faktoren hätte Nero Wolfe den Mord auf einer Weihnachtsfeier wahrscheinlich nicht aufklären können. Dabei ist es einer der Fälle, der für ihn persönlich hätte gefährlich werden können. Noch stärker als Sherlock Holmes mit seinem Lestrade hat Nero Wolfe ein ambivalentes Verhältnis zur New Yorker Polizei. Auch wenn er eine überragende Aufklärungsrate hat und dabei die Polizei nur bedingt bloß stellt, handelt es sich um eine Hassliebe. Die Ermittler würden anscheinend sehr gerne den Detektiv auch hinter Schloss und Riegel bringen, auch wenn es teilweise nicht einmal ein Motiv für dessen potentielle Taten gibt.
In „Zyankali vom Weihnachtsmann“ ist Nero Wolfe aber quasi Bote. Die Ausgangslage ist ein wenig kompliziert und wirkt auch konstruiert. Nero Wolfe möchte, dass Archie Godwin ihn zu einem wichtigen Treffen mit einem Orchideenzüchter bringt. Nur hat Godwin an diesem Tag im Grunde andere Pläne. Er will mit seiner Verlobten eine Firmenweihnachtsfeier besuchen. Er plant, seine Verlobte zeitnah zu heiraten und präsentiert eine Heiratserlaubnis.
Nero Wolfe heuert einen Fahrer inklusiv entsprechend Limousine an, während Archie Godwin die Weihnachtsfeier besucht. Dort stellt sich heraus, dass Archie Godwin gegenüber seinem Chef geblufft hat. Seine Freundin will den Gastgeber Kurt Bottweil heiraten und die Lizenz sollte ihn motivieren, ihr endlich das Jawort zu geben.
Kurze Zeit später beim Anstoßen auf die Festtage wird Kurt Bottweil, der als einziger Pernod trinkt, vergiftet. Der für die Feier angeheuerte Weihnachtsmann ist plötzlich verschwunden.
Wieder in Nero Wolfes Haus stellt sich heraus, das der Weihnachtsmann niemand anders als der Detektiv gewesen ist. Diese Wendung überrascht angesichts der Antipathie Nero Wolfes, das eigene Haus zu verlassen. Erst im Laufe der Serie hat Rex Stout daraus fast eine Art Running Gag gemacht, denn in den ersten Romanen besucht Wolfe einige Veranstaltungen, deren Themen ihn interessieren und wird außerhalb der eigenen vier Wände mit verschiedenen Mordfällen konfrontiert.
Nero Wolfes Motiv, als Weihnachtsmann auf dieser Feier aufzutreten beleuchtet das Verhältnis zwischen Godwin und Wolfe. Anscheinend impliziert Rex Stout, dass der Detektiv sich vom Wohlergehen seines Zöglings überzeugen wollte. Hinzu kommt, dass Godwin gedroht hat, mit seiner Frau bei Wolfe einzuziehen, um weiter für ihn arbeiten zu können. Sherlock Holmes hat sich nur bedingt für Doktor Watsons Frauen interessiert. Doyle hat Holmes Begleiter ja auch immer die Möglichkeit eingeräumt, bei den wichtigsten Fällen auch gegen die Interessen seiner Praxis mitzuarbeiten. Die Idee, dass Wolfe mehr als berufliche Gefühle für Godwin hegt und sie eine Art asexuelles Ehepaar bilden wird in dieser Novelle nicht weiter vertieft. In einigen der in den fünfziger Jahren entstandenen Romane geht Rex Stout impliziert auf diese Möglichkeit noch einmal ein, wobei Frauen in erster Linie als Auftraggeber oder Täter eine Rolle spielen und das Privatleben Godwins im Gegensatz zu dem streng regulierten Leben Nero Wolfes im Grunde eher wie Füllmaterial erscheint.
Als Weihnachtsmann auf der Party vom Tatort flüchtend ist Nero Wolfe natürlich ein Verdächtiger. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als selbst den Fall zu lösen. Und das bevor die Polizei auf seine Spur kommt.
Das Format der Novelle kommt Rex Stout in diesem Fall entgegen. Nach einer längeren Exposition nutzt der Autor die Weihnachtsfeier, um mit Kurt Bordweil einen feisten eitlen und selbst verliebten Kapitalisten. Um das Opfer herum platziert Rex Stout neben Nero Wolfe, welcher der offensichtlichste Unschuldige ist, eine Reihe von ausgefeilten Protagonisten, deren Gesichter / Züge sich auch auf dem Collier´s Cover wieder finden. Aus dieser kleinen Gruppe ragt vor allem die Asiatin Cherry Quon heraus, welche Nero Wolfes Geheimnis kennt. Sie leidet unter den Vorurteilen der Nachkriegsgeneration, ist aber intelligenter als ihre Position in der Firma als Sekretärin impliziert. Perry Jerone ist die Geldgeberin Bottweils, der selbst bis auf seine Positionsbezeichnung und sein Ego nicht viel hat. Ihr Sohn Leo will diese auch auf intimen Gefälligkeiten basierende Verbindung unterbrechen.
Franz Dobler stellt in seinem Nachwort deutlich heraus, das alle Verdächtigen ein Motiv haben und Nero Wolfe sein Geheimnis unbedingt hüten möchte, da er sich vor allem im schwierigen Zusammenspiel mit der New Yorker Polizei nicht nur verdächtig macht, sondern der Lächerlichkeit Preis gibt. Allerdings gibt die Struktur der Novelle Rex Stout nicht die Möglichkeit, die Hintergründe der einzelnen Verdächtigen zu untersuchen. Das erfolgt quasi im Off dank Nero Wolfes anderen Helfern, deren Vorgehensweise eine Mischung aus Recherche und Provokation des Täters ist.
Das Finale bei Nero Wolfe mit der Improvisation ist dagegen wieder klassischer Rex Stout. Diese Formel hat der Autor mit unterschiedlichen Schwerpunkten immer wieder zu Hilfe genommen, um seine Fälle zu lösen. Positiv wie negativ kann der Leser der Struktur einer Nero Wolfe Geschichte genauso vertrauen wie der Tatsache, dass der Detektiv seine Gewohnheiten stoisch dickköpfig und penetrant darauf pochend einhält.
Bis auf die Verkleidung als Weihnachtsmann handelt es sich um einen stimmungsvollen, klassischen Nero Wolfe Stoff. Auch ein anderer Punkt von Wolfes Ansichten wird betont. Der Bogen wird von den ersten Dialogen zwischen Godwin und seinem Chef zum Finale mit einem kurzen abschließenden zeitkritischen Gespräch geschlagen und Wolfe behält recht, dass Frauen nicht immer zu trauen ist, auch wenn er am Ende auf die Verschwiegenheit einer Frau setzen muss.
Die Doppeldeutigkeit zieht sich auch durch die kleinen Querverweise, in denen Rex Stout den Streitern für eine amerikanische Demokratie – das ist ernst gemeint – Respekt zollt und ihnen in seinen sicherlich kommerziell erfolgreichen Arbeiten indirekt einen Moment des verdienten Ruhm schenkt. Hier überzeugt Franz Doblers Nachwort am Meisten.
Wer die Originalgeschichtensammlung sein Eigen nennt, muss entscheiden, ob er diese sorgfältig neu übersetzte Novelle hinzufügt. Wer diese Anthologie nicht besitzt, wird mit einer kompakten kurzweilig zu lesenden Nero Wolfe Geschichte belohnt, welche den Weihnachtsgeist so zynisch auf den Kopf stellt.
- Gebundene Ausgabe: 139 Seiten
- Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 1. (21. September 2019)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3608964118
- ISBN-13: 978-3608964110