Der Apex Verlag legt mit Wilson Tuckers „Die Stadt im Meer“ einen heute fast vergessenen Post Doomsday Roman aus den fünfziger Jahren neu auf, der bislang nur als Terra Sonderband 68 erschienen ist.
Es handelt sich dabei um seinen ersten Science Fiction Roman, der in den USA 1951 veröffentlicht worden ist. Die Grundidee einer von Frauen dominierten, allerdings isolierten Gesellschaft wird Wilson Tucker in dem deutlich umfangreicheren und handlungstechnisch interessant aufgebauten Roman „Ice and iron“ (1975) noch einmal aufgreifen.
Obwohl „Die Stadt im Meer“ Tuckers erster reiner Science Fiction Roman gewesen ist, hat er neben seinen seit 1941 erscheinenden Kurzgeschichten zum Beispiel im Mystery „The Chinese Doll“ (1946) auf die Welt des Fandoms zurückgegriffen.
Wilson Tucker gehört heute zu den vielen Autoren, die weniger aufgrund ihres Werks, sondern anderer „Leistungen“ bekannt geworden sind. Auch wenn viele seiner Romane bekannte Themen auf durchaus originelle Art und Weise aufbereitet haben, ist seine Fähigkeit, lebende Persönlichkeiten aus der Science Fiction Szene und dem Fandom aktiv, aber auch wiedererkennbar in seine Kurzgeschichten und Bücher einzubauen eng mit seinem Namen verbunden.
West- Somerset ist eine von einem Matriachiat regierte Kolonie an der Küste. Das Leben ist rau, das Klima eher kühl und das Landesinnere wird durch hohe Berge begrenzt, in denen einige Männer armselig hausen. Die Struktur ist archaisch klassisch. Eine strenge Hierarchie mit einer Königin, das Militär ist wichtig und das Wissen in der Theorie größer als jegliche praktische Anwendung. Auch wenn sowohl der Klappentext der deutschen Ausgabe martialisch von einer Armee der Frauen berichtet, die nach der Atomkatastrophe aufbrechen und die „Stadt im Meer“ suchen, ist davon direkt in Tuckers Text nichts zu lesen.
Es gibt eine Passage, in welcher die Frauen ominös wie ambivalent vor dem unsichtbaren Tod in einigen Städten bzw. an einigen Plätzen gewarnt werden. Ansonsten wird nur bedingt auf eine frühere höhere Zivilisation verwiesen und vor allem die technisch- wissenschaftlichen Hinterlassenschaften ambivalent gehandhabt. So kann die eine Fraktion ihr theoretisches Wissen nicht anwenden und ist quasi auf eine Barbarin mit einer medizinischen Ausbildung angewiesen, um es in die Praxis umzusetzen.
Vor allem handelt es sich aber um keine martialische Post Doomsday Geschichte, sondern ausgehend von den manchmal ein wenig klischeehaft beschriebenen Charakteren eine interessante Expedition durch eine exotische Landschaft mit einigen bizarren Mutantenwesen, sowie einem ungewöhnlichen Ende, das aber sein ganzes Potential nicht ausschöpft.
Die Stadt der Frauen wird aufgescheucht, als ein Adonis von Mann buchstäblich durch ihre Straßen wandelt. Er hat nichts von den verhärmten Männern aus den Bergen. Er ist gesund, groß, braungebrannt und halbnackt. Weiterhin scheint er mehr als zweihundert Jahre alt zu sein. Er kann oder will nicht sprechen.
Mit Handzeichen und mittels einer Karte wird den Frauen klar, dass er nicht nur jenseits der Berge kommt, sondern es entlang der Küstenlinie anscheinend eine Zivilisation gibt, die in einigen Punkten der ihren überlegen ist.
Die Kommandantin teilweise auch aus emotionalen Eigeninteresse rüstet eine Expedition bestehend aus fast einhundert Frauen und drei von Pferden gezogenen Wagen aus, mit welcher sie den Spuren des Mannes zurück folgen will.
Den Hauptteil des Romans nimmt die Expedition ein. Der Leser ist teilweise wissenstechnisch den Protagonisten voraus, wobei Begriffe wie Tunnel oder Städte erstaunlich vertraut genutzt werden. Alleine die Wege – es müssen ehemalige Highways sein – können die Frauen nicht zuordnen. Wie erwähnt ist der Abschluss auf technischer Ebene frustrierend offen und der Leser möchte gerne mehr über „Die Stadt im Meer“ erfahren, wobei Wilson Tucker geschickt durch das Schicksal seiner wichtigsten Protagonistin und ihrer Entscheidung ablenkt.
Spannung versucht der Autor zusätzlich aufzubauen, in dem er dem Leser sehr früh klar macht, dass keine der Frauen zurückkehren wird und man nur ein Skelett in der Nähe des Grenzübergangs finden wird. Tucker impliziert immer wieder Möglichkeiten, aber der plottechnisch expressiv beschriebene Moment ist die einfache wie effektive Antwort. Grundsätzlich leidet die Spannungskurve nicht unbedingt unter diesem Vorgriff.
In der zweiten Hälfte des Buch zieht Wilson Tucker das Tempo ordentlich an. Die Truppe von Frauen begegnet unterschiedlichen, ausnahmslos männlichen Mutanten, wobei der Spektrum auf deren Seite von stummer Neugierde – das Titelbild der deutschen Ausgabe ist in dieser Hinsicht sehr aussagekräftig – bis Aggression reicht.
Interessanter ist der hinter den Kulissen tobende Konflikt zwischen den Frauen, von denen sich mindestens vier ein Verhältnis/ eine Partnerschaft mit diesem Übermann vorstellen können. Auch hier hält Tucker am Ende eine kleine Überraschung parat, wenn er den Mann wieder auf seine familiäre Stellung reduziert und die Frauen buchstäblich schockiert.
Auf der anderen Seite könnten diese Passagen aber auch frauenfeindlich erscheinen, denn die intelligenten Frauen werfen ihre hierarchische Ordnung, ihr Selbstwertgefühl buchstäblich über Bord, um mit einem Prachtexemplar des anderen Geschlechts eine Familie zu gründen. Auch hinsichtlich der finalen Entscheidung dreht Tucker den Spieß zurück und folgt dem eher sozialen Bild der fünfziger Jahre. Ein wenig mehr Provokation hätte diesem Handlungsbogen gut getan.
Generell ist „Die Stadt im Meer“ aber für die fünfziger Jahre wie Stewarts „Leben ohne Ende“ ein ungewöhnlicher Post Doomsday Roman, welcher weniger nihilistisch vor den Folgen eines Atomkrieges oder eines weiteren Weltkriegs warnt, sondern aufzeigt, wie sich die menschliche Zivilisation allerdings in mehr Facetten wieder an die Oberfläche kämpft und mit unterschiedlichen Voraussetzungen ihr Leben fortführt. Während Stewart sich aber alleine auf die menschliche Innovationskraft auch unter widrigen Umständen konzentriert, fügt Tucker ein ambivalentes Element mit der futuristischen Stadt im Meer hinzu, die aber als weitere ironische Wendung nicht ohne „Barbarenblut“ überleben kann.
Leider wird dieser Hintergrund wie mehrfach erwähnt zu wenig nachhaltig ausgebaut, so dass im Mittelpunkt der Geschichte eher die beschwerliche, aber auch angesichts des immer besser werdenden Klimas auch erbauliche Reise von der Küste über die Berge bis in das Tal mit der Stadt steht.
Das Tempo ist anfänglich ein wenig schwerfällig. Genau wie der Beginn der Reise zu Fuß und mit Proviantwagen. Tucker beschwört zwar nicht den Frontiergeist des amerikanischen Weste(r)ns, kommt ihm aber sehr nahe. Die zweite Hälfte ist interessanter, auch wenn der ganze Plot ein wenig unter der teilweise oberflächlichen bis pragmatischen Charakterisierung vor allem der weiblichen Protagonisten leidet.
Die Wiederentdeckung und Neuauflage dieses auch antiquarisch nicht leicht oder billig zu findenden Romans durch den Apex Verlag ist alleine eine Empfehlung wert.
- Format: Kindle Ausgabe
- Dateigröße: 1774 KB
- Seitenzahl der Print-Ausgabe: 239 Seiten
- Verlag: Apex (24. Januar 2019)
- Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
- Sprache: Deutsch
- ASIN: B07FMLFSH4