Dr. Watson

Dr. Watson, Splitter, Rezension
Stephane Betbeder und Darko Perovic

Im Rahmen des inzwischen eher als „Shwerlock Holmes“ Kosmos zu bezeichnenden französischen Comicuniversums nimmt der wieder in Deutschland vom Splitter Verlag in einem Band zusammengefasste Comic „Dr. Watson“ eine Sonderrolle ein. 

Das Titelbild  impliziert, dass Dr. Watson martialisch grimmig drein scheinend zu einer Art van Helsing Inkarnation geworden ist. Wer sich die Van Helsing Comics ebenfalls aus dem Hause  Splitter näher betrachtet, wird diese Ähnlichkeit erkennen. Aber Autor Stephane Betbeder zusammen mit seinem Zeichner Darko Perovic versucht viel mehr.

Auf zwei abschließend zusammenlaufenden Handlungsebenen zeigt der Autor nicht nur Dr. Watsons plötzlich weniger ruhmreiche Vergangenheit im Krieg, sondern impliziert, dass die  Gegenwart  nicht beginnend mit Sherlock Holmes Tod an den Reichenbachfällen, sondern mit der ersten Begegnung in der Leichenhalle im Grunde eine Illusion sein könnte. Diese Idee verblüfft,  provoziert, schockiert und fasziniert zu gleich. Damit sie überhaupt  funktionieren kann, muss Stephane Betbeder Doktor Watson nicht nur als komplexen wie komplizierten Charakter entwickeln, sondern die tatsächlichen „Ereignisse“  im Kanon neu oder besser anders interpretieren als es sowohl Arthur Conan Doyle wie  auch viele andere Autoren versucht haben. Diese Vorgehensweise ist ohne Frage gewöhnungsbedürftig, aber sehr geschickt gewählt.

Leider funktioniert die notwendige Doppelung der Ereignisse nicht immer gänzlich zufriedenstellend. 

Gleich zu Beginn der Geschichte erwacht Doktor Watson in einer afghanischen Leichenhöhle. Sein Körper ist ausgemergelt, er hat kein Wasser und ist geschwächt.  Ihm droht ein langsamer Tod. Rettung kommt in Gestalt einer Geistererscheinung. Anscheinend versucht der bei den Reichenbachfällen ums Leben gekommene Holmes ihm Kraft zu geben.  Das Thema Geistererscheinung teilt sich anschließend auf die beiden Hauptebenen auf. In der „Gegenwart“ scheint Doktor Watson nach Holmes Tod weiter zu ermitteln und stellt einen Fotographen, der seinen Geisterfotos anbietenden Rivalen langsam vergiften möchte. In der Vergangenheit zeigt sich, dass Sherlock Holmes anscheinend während des Feldzugs gegen die Aufständischen in Afghanistan einen Doppelgänger hatte. Watson wird zu einem Spähkommando einem jungen Soldaten namens Murray zugeteilt, dessen Methoden genau den besonderen Fähigkeiten Sherlock Holmes entsprechen. Nur setzt Murray  sie im Krieg gegen die Rebellen ein.    

Vielleicht zieht sich die Auseinandersetzung in Afghanistan zu lange hin und drückt dadurch das Ende der Geschichte ein wenig zu sehr an den Rand, aber die Intention des Autoren ist klar.  Von Beginn an macht er deutlich, dass Doktor Watson unter Schuldgefühlen leidet.  Auf der Vergangenheitsebene wird deutlich, dass er viel zu sehr noch britischer Gentlemen ist, um gegen die Rebellen im Grunde nach den biblischen Auge um Auge, Zahn um Zahn Prinzip  vorzugehen.  Betbeder bleibt in diesen Punkten opportunistisch allerdings auch zu sehr an der Oberfläche. Watson scheint im wahrsten Sinne des Wortes störrisch betriebsblind und feige zu sein, wobei er auf der anderen Seite in einigen Szenen tapfer und entschlossen agiert.  Dieser Widerspruch in seiner Persönlichkeit wird nicht abschließend aufgeklärt. Allerdings verlässt der Regimentsarzt Afghanistan mit einem Rucksack  voller Schuldgefühle.

Auf dieser Idee baut konträr die Gegenwartsebene auf.  Um sich der Schuldgefühle zu erledigen, scheint Watson im Grunde eine gespaltene Persönlichkeit zu sein, die immer wieder neben der Spielsucht und anscheinend auch einem Hang zu Drogen/ Alkohol zu Wutausbrüchen neigt. Seine schwangere Frau leidet unter diesen emotionalen Achterbahnfahrten. Ohne zu viel zu verraten demontiert sie zusammen mit einem Arzt die „Realität“ Watsons und treibt ihn mit einem komplexen Plan unbewusst noch mehr in die Enge, bis schließlich auch nach seinem Tod an den Reichenbachfällen einer sterben muss.  Entweder Sherlock Holmes oder Doktor Watson.

Diese psychologischen Gedankenspiele sind ausgesprochen effektiv in eine nicht unbedingt stringente, aber dank der eindrucksvollen graphischen Umsetzung von Darko Perovic jederzeit zu verfolgende Handlung eingebettet.  Ganzseitige farbenprächtige vor allem in den Hintergrunddetails  plastische Zeichnungen stehen den vielleicht ein wenig zu simplen, zu  leicht austauschbaren Gesichtszügen der Protagonisten gegenüber. Auf surrealistische Spielereien verzichten sowohl Zeichner als auch Autor, um den Leser noch mehr in ihren Bann zu schlagen und im Umkehrschluss entsprechend den Boden unter den Füßen wegzuziehen. 

Immer wieder haben die französischen Comics den Sherlock Holmes Kosmos aus den Angeln gehoben. In einer Story ist Moriarty nicht der Erzschurke, sondern der Held.  In anderen Texten begegnet der britische Meisterdetektiv Zeitreisenden oder Vampiren. Unheilvolle Experimente werden in einem einsamen Küstenort durchgeführt. Kontinuierlich hat sich auch durch die ineinander greifenden Arbeiten ein französischer Sherlock Holmes Parallelkosmos herausgearbeitet,  dessen Wurzeln immer noch klar zu erkennen, dessen Ziele aber frei formuliert vage bleiben.  Es ist wichtig, dass der Leser diese freie Interpretation akzeptiert. 

Während die bisherigen Comics direkt oder indirekt aufeinander aufbauten, steht „Dr. Watson“ isoliert da.  Der Leser  muss Doktor Watsons Rolle als Erzähler akzeptieren, die vor allem dank der in „The Strand“ abgedruckten Geschichten in dieser Form auch möglich ist.  Dabei geht Betbeder vor allem  im ersten Teil der Geschichte nicht ganz ehrlich mit dem Leser um.  Die notwendige Subjektivität wird auf den ersten Blick aufgebrochen, um zumindest bei Sherlock Holmes Begräbnis -  allen ist klar, dass dessen Leichnam nicht aus den Wasserfällen geborgen werden könnte – die Perspektive zu erweitern und objektiver zu werden.  Eine Galerie der wichtigsten „Helfer“ wird präsentiert, wobei weder Mycroft Holmes noch Lestrade wirklich Ähnlichkeit mit den Vorbildern in Doyles Geschichten oder den akzeptierten Formen innerhalb des Kanons haben. Ein Zyniker könnte davon sprechen, dass es sich um Absicht handelt, aber dann dient diese Form der Präsentation in erster Linie zur Täuschung der Leser und weniger Dr. Watsons selbst.

Ohne Frage ist die ganze Geschichte interessant.  Aus psychologischer Sicht negiert Betbeder den ganzen bestehenden Kanon und etabliert im Grunde beginnend mit Watsons Rückkehr aus Afghanistan einen gänzlich neuen Kanon.  Dabei werden selbst Humoresken wie „Genie und Schnauze“  unfreiwillig einbezogen, wobei insbesondere Ben Kingsleys hervorragende Darstellung eines gänzlich anderen Doktor Watsons die Basis für diese Geschichte natürlich dunkler, brutaler und zynischer erzählt hätte sein können.

„Dr. Watson“  ist vielleicht der am schwierigsten  zugängliche Band der französischen Sherlock Holmes Comic Reihe. Auf der einen Seite funktioniert die Story nur, weil der  Leser mit den Mechanismen des Kosmos so vertraut ist, auf der anderen Seite möchten Autor und Zeichner eine gänzlich andere, auch faszinierende Story erzählen und die Perspektive mit fast sadistischer Freude verschieben. 

Wie bei  den anderen französischen Comic Geschichten muss sich der Leser auf diese Spiel einlassen, dann wird er vor  allem im vorliegenden Album trotz einiger inhaltlicher Doppelungen, die nicht zufriedenstellend bis zum Ende extrapoliert werden, sehr gut unterhalten.          

  • Gebundene Ausgabe: 96 Seiten
  • Verlag: Splitter-Verlag; Auflage: 1., (22. Februar 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3958394531
  • ISBN-13: 978-3958394537
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 14 Jahren
  • Originaltitel: Dr Watson
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