Im Original heißt Robert Silverbergs Mosaikroman „The World Inside“. Da die meisten der ursprünglich als einzelne Kurzgeschichten erschienenen Texte in den gigantischen in den Himmel ragenden Hochhäusern spielt, ist der Titel in doppelter Hinsicht passend. Neben den Wohnwaben, die an eine amerikanisierte Wohnzimmer von Ballards Dystopien erinnern, blickt Robert Silverberg aber auch mit einem ironischen Auge in die Bibel und extrapoliert Gottes Wunsch, „seid fruchtbar und mehret euch“ auf eine so verklärte Art und Weise, das diese multisexuelle, sich gegenseitig glücklich machende Gesellschaft förmlich jede Individualität erdrückt.
Im Vorwort der amerikanischen Neuauflage im Jahr 2010 ergänzt der Amerikaner noch die Entstehungsgeschichte dieses vor Jahren auch im Heyne Verlag als Taschenbuch, jetzt wieder als E Book zugänglichen Buches. Angestachelt von den dunklen Vorhersagungen verschiedener Wissenschaftler mit der „Club of Rome“ These als dunklem Höhepunkt entstanden eine Reihe von Romanen, die sich mit dem Thema Überbevölkerung und schwindender Resourcen auseinandersetzen. Im direkten Vergleich mit Harry Harrison, John Brunner oder James Blish als Nachfolger zum Beispiel von Isaac Asimovs allerdings als Krimi aufgebauten „Die Stahlhöhlen“ griff Robert Silverberg bei seiner als Ausgangspunkt dienenden Kurzgeschichte „Ein glücklicher Tag im Jahre 2381“ auf ein gänzlich anderes, ohne Frage auch provozierendes Konzept zurück. Durch den Besuch eines Botschafters von der Venus kann Silverberg in dieser Kurzgeschichte stellvertretend für den Leser die Grundidee ausführlich erläutern.
Auf der Erde leben mehr als 75 Milliarden Menschen. Um ausreichend Platz zur Versorgung zu haben, entstehen überall auf der Erde gigantische Wohntürme. Mit mehr als eintausend Etagen können sie mehr als 800.000 Menschen aufnehmen. Ist ein Turm voll, wird der Nächste gebaut. So dienen mehr als achtzig Prozent der Erdoberfläche als Anbaugebiete für Nahrung- Hier leben nur wenige Menschen, die mittels ihrer Maschinen die entsprechenden Nährstoffe für die Fertignahrung herstellen. Ihre Kultur ist wie der Leser in einer späteren Geschichte erfährt auf eine gewisse Ebene der Primitivität zurückgefallen, wobei auch ihre Rituale und Lebensgewohnheiten nicht ganz dem gegenwärtig gewohnten Bild entsprechen. Aber die „Überbevölkerung“ wird nicht als Last angesehen. Das Gegenteil ist der Fall. Immer mehr Menschen sollen auf der Erde leben und die offene Gesellschaft mit einer Art Wettbewerb zu Großfamilien ist ein wichtiger Bestand der Religion, welche anscheinend inzwischen globalisiert worden ist, aber von Robert Silverberg ambivalent eingesetzt wird.
Damit es zu keinen sozialen Konflikten kommt, gibt es im Grunde die Ehe nicht mehr. Die Frauen stehen jedem Mann zur Verfügung. Nightwalking ist eine populäre Art der Beschäftigung. Die Türen sind zu den Wohnräumen, in denen Eltern und Kindern auf aus den Boden hervor steigenden Schlafplattformen leben, sind offen. Die Männer können quasi sich jede Frau nehmen, auch wenn der Ehemann zu gegen ist. Diese Art der offenen Ehe wird ihnen von Beginn an eingetrichtert. Jugendliche haben schon aus heutiger Sicht als Kinder Sex, heiraten unglaublich jung und haben die ersten eigenen Kinder mit dreizehn oder vierzehn. Dann dürfen sie in ein eigenes Appartement ziehen.
Ich bevölkerungstechnisch ein Turm am Rande der Erträglichkeit, entsteht in der Nähe aus dem Nichts – auf die bautechnischen Details oder die Ausführung der Arbeiten geht Silverberg nicht weiter ein – ein neuer Turm, in den Freiwillige unter sozialen Privilegien oder Ausgewählte – kinderlose Paare – umziehen müssen. Anschließend geht das fruchtbar sein und vermehren weiter.
Jede Art von Opposition wird in dieser Welt mit dem Tod in den Recyclingschächten bestraft. Soziale Abnormen werden von den Psychiatern wahrscheinlich mit moderner Art von Gehirnwäsche behandelt, so dass diese perfekte und perfektionierte Gesellschaft pazifistisch der magischen Zahl 100 Milliarden Menschen entgegen dämmern kann.
In den einzelnen, durch verschiedene Charaktere miteinander verbundenen Geschichten zeichnet sich aber was unwirklich ein etwas anderes Bild ab. Mit dem breiten Pinsel der Satire gezeichnet ist Unzufriedenheit eine Art dekadente Krankheit, die sich sowohl in den Ehrgeizigen mit dem Emporkömmling Siegmund Kluver als auch dem Computeringenieur Michael Statler breit macht. Während Statler davon träumt, den Turm einmal zu verlassen und die freie Natur zu sehen, sucht der anfänglich überambitionierte Karriere besessene Siegmund Kluver unbewusst mehr und mehr soziale Unterschichten, an denen er sich reiben kann.
Der Historiker Jason Quevedo in einer weiteren Story ist ein Bindeglied zur Gegenwart, in dem er die wilde Vergangenheit mit ihren Kriegen und sozialen Unzufriedenheit analysiert, um diese perfekte wie sterile Zukunft für den Leser zugänglicher zu machen.
Der Botschafter von der Venus ist eher schockiert über die aus seiner Sicht primitive Gesellschaft, in der Sexualität ein freies Gut ist und Fruchtbarkeit eine Tugend. So bietet ihm sein Gastgeber die eigene Frau an, die auch willig ist. An einer anderen Stelle verfolgt der Leser provoziert, dass Inzest anscheinend genauso wenig verboten ist wie sexuelle Nötigung. Die Frauen dürfen ja nicht nein sagen. Sie werden nachts besucht, sind immer willig und anscheinend auch durch die Art der Nahrung immer feucht. Der Sex ist immer „freiwillig“ und nicht selten sind die Frauen enttäuscht, wenn sie nachts keinen Nightwalker zu Besuch haben.
Die Männer wie Frauen sind attraktiv und gesund. In einer derartig perfektionierten Welt kann es in dieser Hinsicht keine Ausfälle geben. Zwar gibt es auch rudimentär erkennbare Formen von Lebensgemeinschaften, gebildet durch die Appartements, in denen diese Familien leben, aber durch die ständigen Besuche und wechselnden Partnerschaften sei es auch nur für eine Nacht, wirkt alles wie eine gigantische Familie, deren Grenzen fließend sind. Durch die gänzlich offene Raumstruktur – auch Toiletten werden nur auf einen besonderen Wunsch individuell durch einen Sichtschutz abgeteilt- wachsen die Kinder ja schon mit aktiver Sexulität auf und beginnen selbst ironisch übertrieben mit Kindesbeinen zu experimentieren und schließlich eigene Familien zu gründen.
Ohne in die Details beschreibend zu gehen wirkt soviel nicht selten dezent als Beischlaf beschriebener Sex erdrückend und verliert seinen sinnlichen Reiz absichtlich im Laufe der pointierten Kurzgeschichtentexte. Im Gegenzug zeigt Silverberg in seiner Wohlstandssatire auf, das selbst diese perfektionierte Gesellschaft auf tönernen Füßen steht und der vor allem von Ballard in „High Rise“ beschriebene Zusammenbruch der Zivilisation um die Ecke lauert.
Keine der Figuren erreicht in diesem nicht unbedingt nihilistischen, aber pointiert dunklen Roman ihr eigentliches Ziel. Es ist kein Zufall, dass so eine Männer orientierte Gesellschaft sich in der Vielzahl der männlichen Protagonisten widerspiegelt, welche Silverberg aus Ausgangspunkt seiner Geschichte genommen hat. Frauen sind schönes Zierwerk, wobei sie nicht selten als Ausgangspunkt von Tragödien, aber auch als simple seelische Begleiter die letzte Sicherheitslinie vor dem geistigen Verfall bieten. Aber der Flüchtling Michael Statler muss erkennen, dass es außerhalb der Türme auch nicht leicht ist, in einer rituellen an die in „The Wicker Man“ beschriebenen Rituale erinnernden Gesellschaft zu überleben. Siegmund Kluver steigt am schnellsten in die Hierarchie nach oben und fällt im Grunde einen Augenblick zufrieden näher zu Gott am tiefsten. Er ist das Sinnbild eines Opportunisten, der plötzlich an der potentiellen Spitze steht, um zu erkennen, dass er sein Innerstes gar nicht mit genommen hat. Seine Suche nach vor allem sexueller Befriedigung abseits der üblichen Viertel als eine Art Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens leitet die Phase der Verfalls dieser überdehnten Strukturen ein, ohne das Silverberg wie in einen postapokalyptischen Romanen das ganze Bild zeichnet. Es bleibt bei Nadelpunkten, welche der Amerikaner in den hier gesammelten, geschickt wie ein Puzzle aufeinander aufbauenden Geschichten setzt.
Viele Aspekte wie Rohstoffe – woher kommen die Baumaterialien der zahllosen Hochhäuser ? – oder wirtschaftliche Aspekte – auch wenn alle agierenden Charaktere Berufe haben, scheint es sich eher um meistens theoretische Beschäftigung angesichts der zahllosen Menschen zu handeln als eine wirtschaftlich sinnvolle Beschäftigung abseits der wenigen Hauptcharaktere zu handeln – sowie die kommunistisch erscheinende Grundstruktur mit einem perfektionierten Recycling System werden als gegeben vorgestellt und müssen vom Leser in der vorliegenden Form akzeptiert werden, damit sich die kleinen menschlichen Dramen wie die Umsiedelung eines kinderlosen Ehepaars in einen neuen Turm; der angesprochene im Grunde beide Seiten verstörende Besuch eines Außenseiters oder die Sehnsucht nach mehr als nur Sex mit einer geliebten Frau eines anderen Menschen abspielen können.
Ganz bewusst als zynischer Gegenentwurf zu den Antiutopien eines Harrison, eines Brunners, eines Blish oder Vonneguts beginnend mit der 1970 in der Nova Anthologie von Harri Harrison veröffentlichten ersten Kurzgeschichte „A happy Day in 2381“ ist die Neuveröffentlichung dieses sozial provozierenden Episodenromans in Form eines E Books eine erste oder neue Lektüre Wert. Das Buch stammt aus der stärksten literarischen Phase Silverbergs, in welcher er den Mantel des Vielschreibers abenteuerlicher Pulps abgelegt hat, um mit starken Charakteren und sozialen Themen aufzurütteln. Er steht aber zu Unrecht im Schatten der Meisterwerke wie „Der Seher“ oder „Es stirbt in mir“, von denen der Heyne Verlag ebenfalls einige neue als E Book aufgelegt hat.
- Format: Kindle Edition
- Dateigröße: 935 KB
- Seitenzahl der Print-Ausgabe: 200 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (27. April 2017)
- Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
- Sprache: Deutsch
- ASIN: B06X9V8JH6