Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand

Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand, Titelbild, Rezension
Ronald M. Hahn

Der in verschiedenen Genres mit einer durchaus spitzen Feder bekannte und bekennende Jack London Fan Ronald M. Han hat mit dem Sherlock Holmes Roman „… und die geheimnisvolle Wand“ keine echte Hommage an H.P. Lovecraft und seine Alten geschrieben. Im Gegensatz zu erfolgreichen französischen Comicserie, die Ansätze wie das Necronomicon in das viktorianische England übertragen haben. Ronald M. Hahn ist den anderen Weg gegangen und hat quasi einen jungen Sherlock Holmes in H.P. Lovecrafts „Das Grauen von Dunwich“ integriert.

Die Geschichte spielt im Jahre 1880. Sherlock Holmes ist als Meister der Verkleidung, aber auch schon mit deduzierenden Fähigkeiten ausgestattet in Neu England als Mitglied einer Theatergruppe unterwegs. Er will seinen Freund Basil Bishop in Dunwich hinter den Arkham Bergen besuchen. Lovecrafts Dunwich lag eher in einem langen Tal mit Sumpflandschaft inklusive kleineren Schluchten, deren Tiefe nicht zu erkennen gewesen istz.

Die erste Begegnung der Freunde findet in der Buchhandlung Algernon Aylesburys statt, einem ausgesprochen hübschen wie gelehrten Buchhändler der kleinen Stadt. Im Laufe der Handlung wird eine gewisse Homosexualität angedeutet, da Algernon sich seiner Neigung nicht wirklich bewusst ist. Aylesbury dient quasi als Mittler zwischen dem Leser und Sherlock Holmes, da er aufgrund seines großen Interesses und Wissens über den Okkultismus vor allem in Dunwich und Arkham immer wieder indirekte Fragen beantworten kann.   

Im Hause seines Freundes lernt Sherlock Holmes dessen reizende Cousine Violet Armitage kennen. Ronald M. Han gibt sich sehr viel Mühe, die Umgebung nicht nur das Hauses, sondern der kleinen Ortschaft nicht nur aufgrund des unwirtlichen Wetters mit einem kontinuierlichen Schneefall unheimlich und bedrohlich zu beschreiben. Dabei legt der Autor weniger auf eine erdrückende Atmosphäre wie bei H.P. Lovecraft wert, sondern lässt seine Beschreibungen in die nach wenigen Seiten von einem hohen Tempo geprägte Handlung offensiv einfließen. Einen literarischen Bogen schlägt der Autor noch zu den gängigen Pulp Magazinen wie „Argosy“, für die Violet schreiben möchte. 

In der Nacht nähert sich durch den immer höher werdenden Schnee eine einsame Gestalt dem Haus. Es handelt sich um Mr. Whateley aus Arkham, eine der Figuren, die Ronald M. Hahn natürlich leicht verfremdet aus der Lovecraft Geschichte übernommen hat.  Die Whateleys haben in der Vorlage seit vielen Jahren dunkle Geschäfte gemacht und das unsichtbare Grauen bricht auch schließlich aus ihrem Anwesen aus. Violet Armitage findet Whateley von Beginn an unsympathisch. Interessant ist, dass Hahn Whateley auch in eine Position bringt, die tatsächlich den Andeutungen der Vorlage entsprechen könnte. Er spricht unaufgefordert von einer Dimensionspforte, zu deren Bewachung auf dem in der Nähe liegenden Hügel vor vielen tausend Jahren eine Festung errichtet worden ist. 

Ein weiterer Gast sucht in dieser Nacht Schutz in dem Haus. Er scheint auch der Katalysator für die kommenden Ereignisse zu sein. Es kommt zu einem tragischen Unglücksfall, der auch als Mord ausgelegt werden kann. Wenn der Leser aber in diesem Augenblick der Meinung ist, das der junge Sherlock Holmes nicht nur als Städter, sondern intelligenter Beobachter die Zügel in die Hand nimmt, der irrt sich. Natürlich ist Arthur Conan Doyles markante Figur in die laufende Handlung zufriedenstellend eingebaut worden, aber im Umkehrschluss kritisch gesprochen hätte die Geschichte auch mit einem „normalen“ Charakter oder vielleicht als Hommage an Phillip Jose Farmers „Multiheldenuniversum“ auch mit einer anderen Pulp Figur sehr gut funktioniert.

In einigen nicht unwichtigen Punkten entfernt sich Ronald M. Hahn von der Vorlage. Die Liebesgeschichte mit Violet wirkt fast sittsam. Holmes ist sich seiner Gefühle nicht wirklich bewusst, lädt sie schließlich am Ende verwegen sogar nach New York ein, aber der Funke springt nicht wirklich über. Zu sehr müsste der fast emotionslose Sherlock Holmes umgedreht werden, damit diese zarten Bande funktionieren bzw. der Autor diesen jungen Sherlock Holmes stark gegen den Strich kehren.

Auf den ersten Blick auch widersprüchlich erscheint, dass Sherlock Holmes vor allem Schauspieler, aber auf keinen Fall Detektiv werden möchte. Und wenn er überhaupt Ermittler nach dem amerikanischen Vorbild der Pinkertowns, dann nur freiberuflich. Kostproben seines Könnens zeigt er nicht, denn im Verlaufe der nicht unspannenden Handlung  wird Sherlock Holmes zum Beobachter der verschiedenen übernatürlichen Ereignisse. In dieser Hinsicht erinnert er viel mehr an die Protagonisten, die Lovecraft nicht selten aus der ich- Perspektive entwickelt hat.  Mit der Wanderung an der unsichtbaren Wand – anscheinend ist das Haus absichtlich isoliert worden – sowie dem Durchbruch zu anderen Seite kann Sherlock Holmes aktiv die Handlung bestimmen, während der finalen Auseinandersetzung ist er aber ein hilfloser Beobachter wie fast alle anderen in diesem Haus gefangenen und vor allem auch unauffälligen Gestalten. Aber eines kann er nicht. Den „Täter“ – immerhin gibt es noch einen Mann, der irgendwie durch einen Treppensturz zu Tode gekommen ist – mittels seiner einzigartigen Fähigkeiten und seiner Beobachtungsgabe zu überführen. Je stärker die übernatürlichen Ereignisse sich bemerkbar machen, desto weniger kann Holmes aktiv in das Geschehen eingreifen. Unter einer vergleichbaren Einschränkung haben auch die im Splitter Verlag publizierten Comics gelitten. 

Während des Showdowns überrascht Ronald M. Hahn aber nicht mit dem klassischen Konflikt zweier unterschiedlicher, mit den alten Mächten vertrauter „Magier“, sondern er baut das Szenario ohne Sherlock Holmes zu einem Dreikampf aus. Während der Leser zwischen dem offensichtlichen Schurken Whateley und seinem Widersacher hin und her schwankt, wirkt dieser Bogenschlag zur alten Festung und zu den Wächtern ein wenig aufgesetzt. Er ist aber notwendig, das Hahn auf die klassische und vielleicht klischeeartige Zeichnung von „gut“ und „böse“ verzichtet, sondern opportunistisch die beiden Kontrahenten als macht hungrig und egoistisch beschreibt, wobei vor allem das Motiv des Einen klar erkennbar, die „Abwehrhaltung“ des Anderen aber zu ambivalent erscheint. Vielleicht schreibt sich Hahn ein wenig zu sehr in die Ecke, in dem er die Bedrohungen zu überdimensional „manifestiert“ und auf den letzten Seiten dieser langsam, effektiv aufgebauten Erwartungshaltung aber nicht abschließend gerecht werden kann. Warum der Retter so lange gewartet hat und er sich zusätzlich noch „körperlich“ veränderte, bleibt ebenso wenig zufriedenstellend herausgearbeitet wie die Tatsache, dass Holmes und Violet immer wieder von seltsamen „Wesen“ in der Nacht und der Lovecraft Tradition gesprochen haben, die im Laufe des Showdowns wieder zumindest vom Anglitz der Erde, aber nicht aus den immer wieder beschworenen „kalten“ Dimensionen verschwunden sind. Hinzu kommt, dass deren Gehabe inklusiv zu eloquenter Reden manchmal weniger an H.P. Lovecraft und schon gar nicht Sherlock Holmes erinnert, sondern Magier/ Zauberern einer mittelprächtigen Bühnenshow nach empfunden worden ist.  

Das Motiv des Schurken ist dagegen klassischer Pulp. Eine unbestimmte Belohnung nach dem Öffnen der Tore. Das die Idee der großen Alten weiterhin populär ist, zeigen nicht nur zahlreiche Horrorfilme oder die angesprochenen Sherlock Holmes Comics auch Frankreich, sondern selbst Andreas Suchanek hat in seiner Science Fiction Serie „Heliosphere 2265“ anfänglich impliziert, dass die Ash´Gol`Kon aus ihrer Dimension/ ihrem Gefängnis direkte Nachkommen der Alten sein könnten. Diesen Punkt hat der Karlsruher Autor allerdings inzwischen relativiert.

Zu den großen Stärken des vorliegenden sehr kompakten Romans gehört ohne Frage bis auf die Zeichnung des so wenig Arthur Conan Doyles in fast allen Punkten bis auf die „Medizin“ entsprechenden Sherlock Holmes die Charakterisierung aller anderen Figuren. Die Isolation einmal durch das Wetter und ein zweites Mal durch die unsichtbarer Wand erlaubt es, die überschaubare Handlung von Protagonisten nicht nur durch ihre Handlungen, sondern teilweise ihre irre geleiteten Träume und Visionen vorzustellen, wobei der erfahrene Ronald M. Hahn nicht den Fehler macht, seine manchmal mit Inbrust überdimensional gezeichneten Figuren noch einmal um einhundertachtzig Grad je nach Situation zu drehen und den Leser weiter zu verwirren. Dabei hat sich der Autor an den Vorlagen nicht nur H.P. Lovecrafts, sondern mancher Pulpgeschichte orientiert. Diese Vorgehensweise unterhält nicht nur, sie passt zu dem sehr stark fokussierten und deswegen so unterhaltsamen, wenn auch erfahrenen Lovecraft Lesern gegenüber die eng an den Vorlagen aufgebauten Plots.     

Zumindest macht Ronald M. Hahn nicht den Fehler und beschreibt die Bedrohung zu ausführlich. Vieles überlässt er vor allem der Phantasie des jungen Sherlock Holmes, der natürlich mit einer aufgeweckten und bodenständigen wie intelligenten Frau an seiner Seite als einziger direkt mit dem Grauen konfrontiert wird, während die anderen beiden ambivalenten „Wächter“ eher mahnend die Finger heben und der Erzschurke im Grunde nicht weiß, welche globale Bedrohung er aus den bekannten Büchern mit ihrem mehrsprachigen Formeln erweckt.

Zusammenfassend ist „Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand“ eine ohne Frage unterhaltsame unterhaltsame Hommage an H.P. Lovecraft und die Art des atmosphärisch dichten wie sich aus der Phantasie der Leser heraus entwickelnden Horrors und weniger ein Sherlock Holmes Roman. Dabei spielt es keine Rolle, dass Ronald M. Hahn aus der verknöcherten intellektuellen Denkmaschine mit seiner exzentrischen Art einen dreidimensionalen, verliebten wie lebenslustigen jungen Mann gemacht hat. Wo Sherlock Holmes drauf steht, sollte mehr als nur eine Namensgleichheit „drin“ sein.  

 

Phantastischer Kriminal-Roman
Seiten: 192 Taschenbuch
ISBN: 978-3-89840-337-5

Blitz Verlag

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