Okular

Alastair Reynolds, Okular, Titelbild
Alastair Reynolds

„Okular“ ist der erste Band einer neuen Trilogie Alastair Reynolds. Im Original heißt der Roman „Blue remembered Earth“ und die Trilogie firmiert unter dem Titel „Poseidons Children“. 

Alastair Reynolds folgt dabei einem anderen sehr populären britischen Schriftsteller, der in seinen Duologien oder Trilogien nicht selten ebenfalls in der Gegenwart startend weit in die Zukunft und noch viel weiter in die Tiefen des Alls geschaut hat: Stephen Baxter.  Es ist aber ungewöhnlich sowohl für Baxter als auch Reynolds die Geschichte einer mächtigen Familie zu erzählen und damit den ausufernden Plot wieder auch kriminaltechnisch ein wenig zu konzentrieren.  Das zeitliche Spektrum ist in "Okular" noch übwerschaubar, aber am Ende des dritten Buches wird sich der Plot über mehrere zehntausend Jahre und dank der „Hinterlassenschaft“ technologisch bis in die Tiefen des Alls erstrecken. Ob die beiden ebenfalls in Vorbereitung befindlichen Fortsetzungen die detektivtechnische Intensität des ersten Buches erreichen oder wie viele von Reynolds frühen Büchern die Wunder der Galaxis in Worte fassen, bleibt abzuwarten.  Es ist ein vor allem ambitioniertes Szenario, das Reynolds allerdings mit einigen Längen hier in "Okular" zu entwickeln beginnt.

Der Roman beginnt und endet hinsichtlich der Haupthandlung mit Beerdigungen, obwohl dank der virtuellen Kopien ein Tod eher eine Art Übergangsstadion ist. Der Prolog mit dem Fund einer gefährlichen Maschine wird erst sehr viel später im Handlungsrahmen noch einmal in einer der zahlreichen Actionszenen aufgegriffen und steht nicht im Vordergrund der sich über weite Strecken wie eine Schnitzeljagd entwickelnden Handlung,  deren Spannung vor allem wie bei Jack McDevitt sich aus dem zu suchenden Geheimnis heraus entwickelt.

Das wirtschaftliche Zentrum ist inzwischen Afrika.  Technologisch führend und eine Wirtschaftsmacht, welche die alte Welt abgelöst hat. Kriege gibt es seit mindestens achtzig Jahren nicht mehr. In einem ambivalenten Rundumschlag hat Reynolds gleichzeitig auch Armut und Verbrechen dank der überwachten Zonen abgeschafft. Weitere Hintergründe werden nicht erläutert, so dass die inzwischen erfolgt Exploration in die Tiefen des Sonnensystems wie eine Art MacGuffin erscheint. Aber von der Erde bekommt der Leser bis auf den Familiensitz der Akinyas sowie die Elefantenherden, um die sich Geoffrey Akinya kümmert sowieso nicht viel zu sehen.

Geoffreys Großmutter Eunice stirbt. Sie hat ihr für diese Zukunft relativ kurzes Leben meistens im All verbracht. Sie gilt als extravagante Raumfahrtpionierin; als solide Geschäftsfrau, unter deren Ägide der Konzern der Akinyas zu neuen wirtschaftlichen Höhen sich aufgeschwungen hat und vor allem als kritische Querdenkerin, die immer konsequent und geheimnisvoll ihren Weg gegangen ist.  Ihre Familie versammelt sich bis auf Geoffreys Schwester in Afrika, wo ihre Asche verstreut wird.

Bei der Testamentseröffnung stellt  sich heraus, dass sie auf dem Mond noch ein Schließfach hatte.

Die beiden augenblicklichen Geschäftsführer des Familienkonglomerats schicken mit Geoffrey im Grunde das schwarze Schaf ihrer Familie zum Mond. Er kümmert sich am liebsten um seine Elefantenherde, deren Rekultivierung ein kostspieliges Forschungsprojekt seinerseits ist.  Nur mit besseren Fördermitteln lässt sich Geoffrey bereitschlagen, zum Mond zu fliehen und das Schließfach zu öffnen. Hier findet er einen Handschuh, Bestandteil eines alten Raumanzugs, dessen Finger mit Perlen in drei verschiedenen Farben ausgestopft sind.

Zusammen mit seiner Schwester – als Künstlerin ist sie ebenfalls aus der Art der Familie geschlagen – beginnt Geoffrey eine Schnitzeljagd, die ihn schließlich weit raus zu den äußeren Planeten führen wird.

Diese Jagd nach Eunice letztem Geheimnis ist das tragende Spannungsmoment des Buches. Eunice selbst tritt in Form verschiedener künstlicher Inkarnationen ebenfalls im Roman auf. Ihre arrogante, ein wenig selbstgefällige, aber auch pragmatisch ironische Art gipfelt natürlich nicht in der Preisgabe des Geheimnisses. An diese wichtigen Fakten kann sie sich nicht erinnern. Es erscheint eher so, als wenn Reynolds mit ihr als lockerem Leitfaden dem Leser die Möglichkeit geben will, den komplexen, teilweise kompliziert entwickelten, futuristischen Kosmos dieses Universums besser zu begreifen.

Alle Hinweise werden vor den Lesern und damit auch den Protagonisten ausgebreitet. Auf rein logischer Basis mit einem gewissen Verständnis für die verstorbene Großmutter, aber auch einem Respekt vor ihrer Lebensleistung können sie den Hinweisen folgen. Interessant ist, dass im letzten Viertel des Buches Reynolds einen Schwenk zu Arthur C. Clarke zu vollführt, um dann dessen „Thesen“ auf den nächsten Seiten in den Boden zu stampfen.  Die Idee ist viel simpler. So einfach, dass rückblickend der Leser schon früher einen kleinen Hinweis darauf erhält, ihn aber wie Geoffrey aufgrund des fehlenden Hintergrundwissens nicht wirklich einordnen kann. Die grundliegende Prämisse ist schließlich auf der einen Seite atemberaubend und folgt den Strugatzkis in einer pervertierten Form, ist aber auch auf der anderen Seite ein wenig zu "menschlich" gedacht. 

Sie öffnet den Menschen beginnend mit der übernächsten Generation den Weg zu den Sternen, nachdem sie einen entsprechenden Reifeprozess durchlaufen mussten. Reynolds entwirft dazu das Szenario einer sehr kleinen elitären Gruppe von Menschen, die zum Wohle der Menschheit Geheimnisse auf der einen Seite genutzt, auf der anderen Seite auch versteckt haben. Zumindest bietet Reynold positiv am Ende des umfangreichen Buches und Auftakts zu seiner Trilogie den Lesern Antworten an. Mit einem Epilog schließt er sogar in Form eines Berichts den gesamten Handlungsbogen um Eunice vorläufig, wenn auch in Hinblick auf die Fortsetzungen wieder jederzeit zu öffnen ab.  Andere Autoren haben die einzelnen Teile ihrer Serien mit derartig offenen Enden versehen, dass es schon fast wie ein Betrug am Leser erschienen ist.

„Okular“ ist ein ambitioniertes Projekt, in dem Reynolds auf zwei Ebenen vorgeht. Da wäre zum einen die griffige Familiengeschichte bestehend aus einer Reihe von interessanten, aber auch nicht außergewöhnlichen Charakteren. Neben den beiden sympathischen schwarzen Schafen der Familie sind es die gierigen gegenwärtigen Geschäftsführer, die vordergründig den Konzern schützen wollen, denen es aber um rücksichtslose Expansion geht. Eunice als wohlwollende „verstorbene“ Oma  hat aber auch dunkle Seiten. So hat sie auf dem Merkur mit künstlichen Intelligenzen und autark agierenden Maschinen gegen bestehende Gesetze experimentieren lassen,  da die Idee eines gigantischen Okulars – daher der Titel – ausgeschickt in die Tiefen des Alls auf der Suche nach neuem Leben diese Forschungen leicht überdecken konnte.

Diese Idee steht in einem engen Zusammenhang mit den weiteren technologischen Fortschritten, wobei Reynolds im Gegensatz zu seinen bisherigen Science Fiction Epen basierend auf einer guten Extrapolation auch ein wenig ambivalent vorgeht. Der Leser hat an einigen Stellen das unbestimmte Gefühl, als wenn die Suche nach dem großen Geheimnis – es ist wirklich groß und revolutionär, allerdings auch schwer zu verbergen – immer wieder aus der Gegenwart extrapolierte Technik einsetzt, wenn es die Handlung verlangt, diese in dem Kontext aber nicht unbedingt aus sich selbst heraus entwickelt. 

Gegen Ende vielleicht auch aus nachvollziehbaren, aber dramaturgisch übertriebenen Gründen muss Reynolds noch die Vergangenheit einer der interessanten Nebenfiguren inklusiv ihres tragischen Schicksals relativieren.  Dieser letzte Schwenk ist wie die unmittelbar davor beschriebene Actionszene ebenfalls mit einem tödlichen Ausgang nicht unbedingt notwendig. Es bleibt das unbestimmte Gefühl, als hätte der Autor seinem eigenen Plot in diesen wichtigen Abschnitt nicht vertraut. Alleine die Idee hinter dem Geheimnis und der ungewöhnliche Weg dahin sind aber ausreichend, um den Leser weiterhin zu fesseln.

„Okular“ ist mit über achthundert Seiten ein umfangreiches Buch. Die Balance zwischen der angesprochenen sehr stringenten,  einige Zeit in die Vergangenheit, aber möglicherweise in die Zukunft reichenden Handlung sowie den Hintergrundinformationen ist nicht immer gelungen. Insbesondere im Mittelteil versucht Reynolds zu Lasten eines kontinuierlich und effektiv fortschreitenden Plots seine Welt ein wenig belehrend und ausschweifend vor allem in technologischer Hinsicht weiter zu entwickeln, während das neue Herz der Welt Afrika bis auf die Flüge mit der Cessna über die Elefantenherde im Gegensatz zu anderen, ebenfalls auf dem ehemaligen schwarzen Kontinent  spielenden utopischen Romanen zum Beispiel einer Nnedi Okarafor sich im Grunde von einer eher blanken Seite zeigt. Es wäre schön gewesen, unabhängig von der interessanten Idee diese Prämisse auch inhaltlich mit Leben zu füllen.

Der wissenschaftlich wie kriminaltechnisch relevante und lesenswerte Schnitzeljagd Plot ist das Herz dieses umfangreichen, aber trotzdem im Kern ausgesprochen stringenten, wenn auch nicht temporeichen Romans. Es ist Alastair Reynolds zugänglichster Roman seit vielen Jahren und ein aufschlussreicher Auftakt zu einer Äonen umfassenden Familiensaga in Stephen Baxter Manier und Olaf Stapledon Tradition.  

   

 

  • Taschenbuch: 816 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (12. September 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453317548
  • ISBN-13: 978-3453317543
  • Originaltitel: Blue Remembered Earth