
Die erste Geschichte des Jahres 2017 stammt von Nina Kiriki Hoffmann. Für "Vinegar and Cinnamon" ist auch das Titelbild gezeichnet worden. Das zweite Katzentitelbild in Folge. Und trotzdem sind die zugrundeliegenden Geschichten sehr unterschiedlich. Eine Familie, die über unterschiedlich ausgeprägte magische Kräfte verfügt. Eine impulsive große Schwester, die ihren nervigen Bruder in eine Ratte verzaubert. Der Junge beginnt nicht nur mit den Sinnen des Nagetieres zu "denken", sondern entwickelt auch latente magische Fähigkeiten. Obwohl die Grundidee vielleicht nicht originell ist, hat die Autorin überzeugende dreidimensionale und zu menschliche Figuren entwickelt, während die Dialoge voller Humor sind. Ungewöhnlich ist, dass die Katze den Jungen in seiner Tiergestalt erkennt und ihn quasi vorsichtig in ein gemeinsames Bett legt.
Auch die vorletzte Geschichte dieser Ausgabe von Marxc Laidlaw "Wetherfell´s Reef Runics" kann irgendwie als Urban Fantasy und in der Gegenwart spielend bezeichnet werden. Ein Besucher kommt auf Hawaii unter bizarren Umständen tauchend an ein Riff gekettet ums Leben. Ambrose hat einen kleinen Laden für gebrauchte Bücher. Meistens lebt er von den Exemplaren, die in den zahllosen Ferienwohnungen vergessen worden sind und welche ihm das Putzpersonal bringt. Durch einen Zufall kommt er in den Besitz eines seltenen Buches, das dem verunglückten forschenden Taucher gehört hat. Die seltsamen Runen spiegeln sich unter Wasser wie im Buch wieder. Stimmungstechnisch mit einem subtilen Humor gehört die Story zu den besseren Arbeiten dieser Ausgabe. Nur fehlt dem Text ein zufriedenstellender Abschluss und vor allem ein bessere Zusammenhang zwischen den nur angedeuteten phantastischen Ideen und dem eigentlichen Plot.
Mit der Fantasy Idee des Wechselbalges geht "On the Problem of Replacement Children: Prevention, Coping, and Other Practical Strategies" Debiie Urbanski um. Kinder verschwinden und werden durch "Replacement Children" ersetzt. Die einzelnen Fälle werden sachlich genau aufgelistet. Das Verhalten der Eltern gegenüber den neuen Kindern. Theorien hinsichtlich magischer "Verschwörungen" und schließlich auch ein kleiner Ausblick auf die Zukunft mit erwachsenen Replacement Kindern, die wieder Eltern werden könnten. Humorvoll, bissig, ein wenig abgedreht, aber sehr unterhaltsame Variante eines Themas, das die Literatur seit vielen Jahren beschäftigt.
Auch der Science Fiction Teil dieser Ausgabe fokussiert sich auf einige wenige Themen und lässt das Outer Space zum Beispiel gänzlich aus. Wole Talabi hat mit "The Regression Test" eine ungewöhnliche SF Geschichte zu einem bekannten Thema - künstliche Intelligenz - verfasst. Die Protagonistin ist das menschliche "Kontrollorgan" des afrikanischen Einsteins. Diese Kontrolle erfolgt durch eine Reihe interessanter und für den Leser jederzeit nachvollziehbarer Fragen, während der Hintergrund ein wenig zu eindimensional ausgearbeitet worden ist. Auch
"A Gathering on Gravity's Shore" von Gregor Hartmann zeigt die fiktive Extrapolation der Gesellschaft. Auf Partys können sich die Menschen erst verstecken und dann "enttarnen". Greor Hartmann zeigt unabhängig vom sozialen Tanz der Eitelkeiten diese bizarre Art des Treffens. Die Dialoge sind pointiert und doppeldeutig, auch wenn die Veränderung im Protagonisten Franden aufgesetzt erscheint. Herausfordernd, aber nicht so intellektuell stimulierend wie "The Regression Test"
Mit seiner Science Fiction Horror Story "Dunnage for the Soul" rundet Robert Reed diesen intellektuellen SF Teil der Ausgabe sehr gut ab. In seiner Zukunft kann die Gehirnaktivität sehr viel besser vermessen werden. Einige Menschen haben besondere elektrische Ströme, welche im Allgemeinen schließlich als Seele bezeichnet werden. Geräte machen es möglich, die eine oder sogar mehrere Sellen in einem Menschen zu erfassen. Sechs Prozent der Menschen verfügen über keine messbare Seele. Sie werden diskriminiert, verlieren ihre Jobs und erscheinen isoliert. Der Erzähler hat eine perfide Lösung für das Problem. Neben den geschickten und für manche von Reeds konsequenten Extrapolationen sozialer Fehlströmungen ist es das perfide, doppeldeutige Ende, das die Story zu einer seiner besten Arbeiten seit einigen "The Magazine of Fantasy and Science Fiction" Ausgaben macht.
Zu den doppeldeutigen "Forschung ist gefährlich" Geschichten gehört "One Way" von Rick Norwood. Harvey ist einer der vielen Professoren, die auch aufgrund privater Probleme nicht mehr auf die Reihe bekommen. Eines Tages wird er von einem der Wunderkinder ausgesprochen, der in Harveys Thesen ein unglaubliches Potential sieht, um die Energieprobleme der Erde zu beenden. Natürlich hat die Sache einen Hacken und natürlich droht die ganze Menschheit durch eine nicht sachgemäße Anwendung zu sterben. Am Ende ein zynischer Hinweise auf die Blindheit der gegenwärtigen amerikanischen Politik. Solide geschrieben, gute Dialoge, aber aufgrund der mechanischen Plot Entwicklung wird das vorhandene Potential nicht ausreichend genug gehoben.
Schwierig einzuordnen ist "There Used to Be Olive Trees" von Rich Larson. Valentin ist dreimal durch die Prüfung gefallen. Er flieht aufs Land und will sich eher seinen Chip entfernen lassen, als noch einmal zu scheitern. Gleich in seiner ersten Nacht wird er als Geisel genommen. Dabei geht es indirekt um Valentins Rückkehr in die Stadt. Solide Geschichte mit tragischen Figuren, aber auch einem Plot, der mehr Raum braucht als ihm der Autor zugestehen möchte. Zusätzlich ist der Hintergrund eher spärlich entwickelt.
Das Landleben in umgekehrter Hinsicht steht bei "Alexandria" von Monica Byrne im Mittelpunkt. Vor zwei Jahren hat Beth ihren Ehemann verloren. Ihr gehört eine Farm in Kansas. Sie möchte sie verkaufen und statt dessen einen Leuchtturm bauen. Was sich wie eine verrückte Idee anhört, ist Teil einer anrührenden Geschichte, die ohne Kitsch oder Pathos versucht, das Leben rückblickend zu ordnen und das erdrückende Gefühl des Verlusts in einfache, aber ansprechende Bilder zu packen, die das alltägliche "Überleben" erträglicher machen.
Wer seit vielen Jahren "The Magazine of Fantasy and Science Fiction" liest, wird immer wieder auf alte Bekannte treffen. Nicht nur auf der Autorenseite, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Figuren. Zu diesen populären Protagonisten gehört Jack Shade. Er arbeitet als Privatdetektiv, hat seine Frau und Tochter unter tragischen Umständen verloren und kann zwischen den Dimensionen wandeln. In der Novelle "Homecoming" Rachel Pollacks übernimmt er fast widerwillig einen Auftrag. Carol Acker hat seine Visitenkarten von einem potentiellen ehemaligen Klienten erhalten. Sie glaubt, irgendwo in den Dimensionen ist ein Teil von ihr verschwunden. Sie weiss aber nicht, was ich ihr wirklich fehlt. Jack Shade übernimmt den Auftrag widerwillig und muss feststellen, dass er abschließend reingelegt worden ist und eine große Gefahr herauf beschworen hat. Er muss sich mit Wesen verbünden, denen er niemals trauen würde.
Nach einem langsamen Start entwickelt sich der Plot sehr zufriedenstellend. Rachel Pollack hat verschiedene Horror und Fantasy Ideen in diesem der Struktur einer Hardboiled Kurzgeschichte folgenden Text zusammengefasst. Jack Shade ist dabei der waidwunde, verzweifelt seine Tochter retten zu wollende Charakter, der keine Risiken eingehen möchte und trotzdem immer wieder von allen Seiten hereingelegt wird. Das Finale ist furios, aber nicht zufriedenstellend genug. Zu viele Elemente fügen sich hier zu nahtlos ineinander, so dass einige Fragezeichen zurückbleiben und das Schicksal ist trotz aller Widrigkeiten Voraussetzungen zu gut mit Jack Shade meint. Die anderen Kurzgeschichten um diesen besonderen Detektiv waren deutlich ambitionierter und origineller geschrieben als die vorliegende Novelle.
Im sekundärliterarischen Teil ragt James Sallis mit einer ausführlichen Besprechung einer neuen Shirley Jackson Biographie deutlich über Charles de Lints rezensionstechnisches hin und her springen heraus. Im Filmteil wird dieses Mal eine der zahlreichen, extra für die Pay Kanäle Amerikas produzierte Fernsehserie vorgestellt. Hinzu kommt ein Essay über die gegenwärtige wissenschaftliche Forschung von Pat Murphy, die seit vielen Jahren ja keine Science Fiction mehr geschrieben hat.
Taschenbuch, 256 Seiten