Mr. Sapien träumt vom Menschsein

Mr. Sapien träumt vom Menschsein, Titelbild, Rezension
Ariel S. Winter

Ariel S. Winter ist ein ungewöhnlicher Autor. Sein Debüt „The twenty- Year Death“  erschien bei den renommierten Hardcase Crime Books. Es handelt sich um einen Roman, der in drei gesonderte Teilbände aufgespalten worden ist. Jeder dieser Abschnitte spielte nicht nur in einer anderen Dekade, der Autor hat sie in unterschiedlichen Stilrichtungen verfasst.  Somit dienten diese drei Passagen als Hommage auf jeweils einen sehr gut erkennbaren Giganten des Krimigenres der entsprechenden Epoche. 

In „Mr. Sapien träumt vom Menschsein“ versucht Ariel S. Winter teilweise nicht immer nachvollziehbar und vor allem dynamisch genug, auf der einen Seite Isaac Asimov mit seinen Robotergesetzen – eines der Modelle heißt demnach auch Asimov 3000 – mit der menschlichen Melancholie Ray Bradburys zu verbinden und erzähltechnisch sich an den psychologischen Stillleben eines Strindberg zu versuchen.  Wer sich vor allem in Ray Bradburys Kurzgeschichtenwerk auskennt, wird eine der zahlreichen Quellen umgehend erkennen. In „I sing the Body Electric“ setzte sich der Amerikaner mit dem Verhältnis einer perfekten Roboter Großmutter und ihren „Enkeln“ auseinander.  Wie bei Ariel S. Winter sind es die Maschinen, welche klüger als der Mensch sind. Die sich selbst kontinuierlich weiterentwickelnden Androiden  behüten in beiden Texten einen schwachen Menschen, wobei Ariel S. Winter immer wieder betont, dass es sich um einen der letzten lebenden Menschen auf Erden handelt. In beiden Geschichten hat sich die Menschheit selbst ausgerottet, wobei Ariel S. Winter die Post Doomsday Komponente ausschließlich pragmatisch behandelt. 

Ray Bradbury hat aber für seine Geschichte einen anderen Ansatz gewählt. Die Roboter Großmutter ist weiterhin klar als künstliche Intelligenz zu erkennen. Ariel S. Winter hat die menschlichen Protagonisten im Grunde durch seine Maschinenmenschen ersetzt. Und das in der kleinen isoliert  an der Küste liegenden Gemeinde nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.  Die Menschen sind quasi bis auf wenige Exemplare ausgestorben und haben den künstlichen Intelligenzen in mehrfacher Hinsicht den Platz überlassen. Es handelt sich nicht einmal um eine Art Verdrängungswettbewerb in der „Terminator“ Tradition, in welcher die stärkere „Spezies“ überlebt. Es scheint sich um eine einfache Wachablösung zu handeln, denn obwohl sich in einer anrührenden Szenen auch ausführlich beschrieben die künstlichen Intelligenzen „fortpflanzen“ können und neue Roboter entstehen, haben sie vor allem die menschlichen Neurosen, Schwächen und schwierig zu beschreiben auch Emotionen übernommen.

Die erste oder zweite Generation der Maschinenmenschen ist noch humanoid. Mit jeder zukünftigen erschaffenen Generation werden die körperlichen Vorbilder, vielleicht auch die Einschränkungen der Menschen mehr und mehr aufgehoben. So beschreibt Ariel S. Winter Roboter mit Fahrradrädern statt Beinen. Wie bei den Menschen wollen die Kinder möglichst wenig mit den Eltern zu tun haben und suchen neue Wege, sich auszudrücken. Es ist schade, dass diese Ansätze einer bizarren Kultur quasi in angedeuteten Ideen steckenbleiben und Ariel S. Winter sich schließlich wieder auf die deutlich erkennbaren zwischenmenschlichen Probleme in Form seiner Maschinen konzentriert als soziologisch weiter zu extrapolieren.

Identifikationsfigur ist Mr. Sapien, einer der letzten direkt von Menschen erschaffenen Roboter.  Sein Nachname ist aber ein zu deutlicher Hinweis auf seine noch besondere Zwitterstellung.

Melancholisch zieht er sich in die Einsamkeit der Küste zurück. Anstatt den Hintergrund seiner Geschichte oder auch nur seiner Welt weiter zu beschreiben, führt Ariel S. Winter eine Art gotisches Element ein. Ein Fremder als Mittler zum Leser dringt in diese isolierte „Welt“ ein und beginnt ein Familiengeheimnis zu eruieren. Nicht einmal absichtlich, aber die roten Fäden sind derartig dicht ausgelegt, dass er gar nicht anders kann, als diese zu einem Knäul zu verbinden und damit deren Geheimnis zu enthüllen. Dass es sich bei Barron Cove um eine dieser Buchten mit einem viktorianischen Herrenhaus in der Tradition von Hitchcocks „Rebecca“ handelt, soll eine schwermütige Atmosphäre simulieren. Ariel S. Winter überspannt aber damit den Bogen und macht das Geschehen schwerfälliger als es wirklich ist.

Wie es sich für diese Art von Geschichten gehört, muss Mr. Sapien erst einmal die Mitglieder der „Familie“ kennenlernen, die ihn aber vom eigentlichen Vermieter Mr. Beachstone fernhalten. Dieser ist angeblich „krank“, ein direkter Hinweis auf seine menschliche Existenz und eine unglückliche Formulierung. An keiner Stelle denkt der Leser im Gegensatz zu Mr. Sapiens daran, dass Mr. Beachstone kein Mensch sein muss. 

Mary und Kent sind „Geschwister“. Ariel S. Winter gibt sich Mühe, sie auch entsprechend unterschiedlich und doch auch zusammengehörig zu beschreiben.  Mary verkörpert die Sehnsüchte einer jungen Frau, die abgeschnitten von der Zivilisation ihren Pflichten eher stoisch nachkommt. Kent ist der aggressive, eifersüchtige und schließlich auch dominante „Bruder“.  Beide sind Kinder des Asimov 3000. Während Mary die Menschen im Allgemeinen noch bewundert und ein besonderes Verhältnis zu Mr. Beachstone hat, verkörpert Kent die neue Generation, die sich mehr und mehr von den Menschen absondern. Kent steht für die emotionslose Überlegenheit der Maschine, wobei sich rückblickend herausstellt, dass ausgerechnet Kent zu Gefühlen wie Eifersucht in der Lage ist. Die dritte Maschine im Beachstone Haushalt ist Clark. Er ist ein typischer Diener, dem Ariel S. Winter einen eigentümlichen Humor schenkt.

Mr. Sapien ist wie angesprochen der Beobachter. Er will mit seinen Vermietern ein gutes Verhältnis haben, obwohl es ihm auf der anderen Seite auch wichtig ist, seinen Urlaub von unbestimmter Länge in Ruhe zu verbringen.  Wie bei den viktorianischen Familientragödien, aber deutlich offensiver entfaltet sich die Geschichte um zwischenmenschliche bzw. mechanische Beziehungen. Um „Inzest“ und schließlich auch wahre Liebe.  Natürlich kann argumentiert werden, dass Ariel S. Winter zwar wie bei der Science Fiction die Versatzstücke des gotischen Grusels nutzt, sie aber nicht aktualisiert. Das große Haus ist da. Es wird aber nicht zu einer eigenen Persönlichkeit und die meisten der „Geheimnisse“ werden eher sachlich abgehandelt und erläutert als das sie einen eigenständigen und damit auch dominanten Handlungsstrang bilden.

Ohne Frage ist das Bemühen zu erkennen,  den Plot kurzweilig und kompakt zu erzählen. Dabei gehen aber wichtige Komponenten verloren. Die Figuren wirken zwar auf den ersten Blick ausführlich entwickelt, aber der Autor schafft es nicht, eine entsprechende Balance zwischen Mensch und Maschine herzustellen.  Ohne die hintergründigen Beschreibungen hat der Leser an vielen Stellen eben nicht das Gefühl, über Maschinen zu lesen. Es könnten „normale“ Menschen mit unnormalen Beziehungen sein.  Dadurch werden diese bekannten menschlichen Dramen nur bedingt in die Welt der künstlichen Intelligenz übertragen. Es ist erstaunlich, dass sich keiner der Protagonisten angesichts ihrer überlegenen Intelligenz die Frage stellt, warum sie absichtlich dann wieder so menschlich handeln? Vor allem Kent als Befürworter eines neuen Lebensstils erscheint hier nicht nachhaltig genug gezeichnet und widerspricht handlungstechnisch seinen fabulierten Intentionen. 

Durch diese Einschränkungen wirken einige Aspekte des sich tempotechnisch solide entwickelnden Plots konstruiert und aus sich selbst heraus nicht überzeugend genug. Wer sich in erster Linie von Stimmungen treiben lassen und eine andere Art von Robotergeschichte lesen möchte, der wird zufriedenstellend unterhalten. Interessant ist, dass weder Mr. Sapiens noch einige andere der Protagonisten wirklich von Menschsein träumen. Sie sind bis auf die körperlichen Unterschiede mit den bestellten Ersatzteilen oder den Rädern statt Beinen in der hier beschriebenen Form Menschen, die um ein sterbendes Familienhaupt als nicht selten ungewollter Mittelpunkt kreisen. Ihnen fehlt die Maschinen typische Distanz, so dass ohne diese technokratischen Hinweise der ganze Roman auch als humanistische Tragödie  wirkt.

Ariel S. Winter ist es gelungen, ein nicht einmal originelles menschliches Drama in die Welt der Maschine zu übertragen und die melancholische, aber  nicht nihilistische Stimmung in seine sprachlich überzeugenden Beschreibungen dieser idyllischen Einsamkeit einfließen zu lassen.  Die intellektuelle und zum Nachdenken anregende Tiefe eines Ray Bradburys oder die Quadratur des Kreises eines Isaac Asimovs – um die beiden offensichtlichen Vorbilder zu nennen – erreicht der Autor aber leider nicht.

Klappenbroschur Paperback

Knaur Verlag

Übersetzung: Oliver Plaschka
Umfang: 240 S.

ISBN: 978-3-426-51932-5