Charlie Chan macht weiter

Earl Derr Biggers

Der fünfte Charlie Chan Roman ist in mehrfacher Hinsicht ein Kuriosum. Das Buch ist 1930 erschienen und die Handlung spielt auch zeitnah. Charlie Chan taucht zum ersten Mal aktiv deutlich nach der Hälfte des Romans auf. Er wird zwar immer wieder als guter Freund Inspektor Duffs bezeichnet. Die beiden charakterlich nicht unterschiedlichen Männer kennen sich schon aus dem Roman „Behind that Curtain“.  Der Übergang zwischen Inspektor Duffs Ermittlungen und  Charlie Chans natürlich abschließend erfolgreichen Recherchen findet auf Hawaii statt.

Typisch für die bislang fünf publizierten Charlie Chan Romane ist die grundlegende Struktur. Es geht um eine kleine, überschaubare Gruppe von Verdächtigen.  Die Zusammenhänge zwischen ihnen sind meistens nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Das Motiv des zumindest ersten Mordes liegt nicht selten in der Vergangenheit. Die erste Tat inklusiv der Aufklärung bedingt weitere Morde. Die meisten Romane spielen in einer sehr abgeschlossenen Gegend.  In diesem Punkt unterscheidet sich „Charlie Chan carries on“ am meisten von seinen Vorgängern. In „Behind that curtain“ ging es um  eine Verfolgung einer jungen Frau über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren und beginnend auf dem indischen Kontinent endend in den USA. Dieses Mal findet der Mord gleich während der ersten Station einer geplanten Weltreise statt. Aus heutiger Sicht vielleicht nicht unbedingt so etwas Besonderes, muss sich der Leser vor Augen halten, das diese Art von extravaganter Reise in den dreißiger Jahren nur besonders reichen Menschen möglich gewesen ist.

In einem Londoner Hotel ist der reiche Industrielle und Tourist Hugh Morris Drake ermordet aufgefunden worden. Daher wird  Inspektor Duff von Scottland Yard zum Tatort gerufen. Drake ist Mitglied einer kleinen Gruppe – es sind nur siebzehn Teilnehmer – von Weltreisenden gewesen.  Anscheinend ist Drake aber nicht in seinem Zimmer ermordet worden, sondern in einem Nebenraum. Man findet einen kleinen Beutel mit Steinen. Zusätzlich findet Duff heraus, dass Drake auf ein Hörgerät angewiesen ist. Die Zeit drängt, da die Gruppe, zum nächsten Ziel auf dem Kontinent weiter reisen möchte. Als in Frankreich ein weiterer Mord passiert, entschließt sich Duff, sich der Gruppe anzuschließen und ebenfalls mit einem letzten Zwischenstopp auf Hawaii mit zu reisen.

Von der Struktur her erscheint Charlie Chan erst sehr spät in der Handlung. Wer unbedingt nur einen Charlie Chan Roman mit seiner einzigartigen Beobachtungsgabe und seinen immer wieder an Orakel erinnernden Sprüche lesen möchte, wird das Buch wahrscheinlich gleich ablehnen. Berücksichtigen muss der Leser, dass Earl Derr Biggers in jedem der insgesamt sechs Charlie Chan Romane einen zweiten Ermittler eingebaut hat. Das muss nicht immer ein berufsmäßiger Polizist sein, es kann auch ein begabter Amateur in dieser Rolle agieren. Wichtig und konsequent ist nur, dass sie eigenen Spuren folgen und wichtige Informationen zusammentragen, welche Charlie Chan spätestens in der finalen Auseinandersetzung mit allen beteiligten Verdächtigen in einem Raum referieren kann.  Mit Inspektor Duff verfügt das vorliegende fünfte Abenteuer sogar über eine bekannte wie markante Figur, der genauso weiß, wie Charlie Chan arbeitet. Dabei hat er seinen eigenen Stil.  Duff ist weniger charismatisch oder auch nur interessant als der berühmte Chinese, aber es wäre unfair, wenn er nicht eigene Meriten verdient.

Dabei wird es ihm in mehrfacher Hinsicht doppelt und dreifach schwer gemacht. In Briefen an einige nicht mitreisende Ehefrau wird von einem der Opfer relativ schnell klar gemacht, dass sich jemand aus ihrer Vergangenheit mit einer berüchtigten Karriere unter einem falschen Namen in die Gruppe eingeschlichen hat. Der Briefschreiber möchte aber als Schutz seiner geliebten Frau gegenüber den Namen nicht in dem Brief verraten. Und damit steht Duff wieder am Anfang seiner Suche, denn es ist relativ klar, dass der kontinuierlich zuschlagende Täter nicht von außen gekommen ist. Mit dieser effektiven wie aber auch frustrierenden Vorgehensweise kann Biggers zwar Spannung aufbauen, fällt aber auch in einige Klischees dieser mit der Zeit verstaubten Mystery Thriller zurück.

Der Stabwechsel präsentiert Biggers in einer der besten und am meisten überraschenden Szenen des ganzen Buches. Während sich Chan und Duff unterhalten, wird der Brite aus dem Hinterhalt angeschossen und schwer verwundet. Der Autor legt die Szene sogar so an, dass der Leser einen Moment den Eindruck haben könnte, als wenn Duff schon getötet worden wäre. Alleine um die Ehre seines Kollegen zu retten und abhängig von der Tatsache, dass ein derartiges Verbrechen ja auf dem Boden Hawaiis stattgefunden hat, beginnt Charlie Chan zu ermitteln.

Da Duff zumindest einige Informationen seinem Kollegen hinterlassen hat, muss Chan nicht mehr tief in die Materie einsteigen. Das obligatorische Liebespärchen, das sich während der Fahrt getroffen hat, kann als Verdächtige von Beginn an ausgeschaltet werden. Pamela ist die Enkelin des in London ermordeten Drake, während ihr neuer Freund Mark Kennaway der Begleiter/ Diener des exzentrischen Anwalts Taits ist. Dadurch wird die Gruppe relativ schnell kleiner.  Auf die endgültige Spur mit einer dürftigen Beweisen und einem weiteren Helfer in einem Versteck vor Ort kommt Charlie Chan trotz aller Ermittlungsarbeit eher durch einen Zufall. Er erkennt jemanden auf einem der Urlaubsfotos wieder, die während der Reise geschossen worden sind. Anschließend muss der Täter quasi dazu gebracht werden, sich selbst zu stellen und sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu zeigen. Diese Vorgehensweise ist ein wenig origineller, moderner als in den letzten Charlie Chan Romanen, in denen sich alle im Grunde an einem Fleck versammeln mussten. Auf der anderen Seite wirkt die Auflösung des Plots ein wenig zu stark konstruiert. Der Hinweis weit in die Vergangenheit erinnert wie bei einigen anderen Charlie Chan Abenteuern an die vier Sherlock Holmes Romane, in denen Arthur Conan Doyle unterschiedlichen Vorgehensweise folgend teilweise in Rückblenden bis zu dreißig/ vierzig Jahre in die Vergangenheit gegriffen hat. Zwischen den Zeilen wird aber eine andere „Falle“ aufgebaut. Auch wenn sich die Reisegruppe um die Welt bewegt, kann der Täter im Grunde nicht entkommen. Jeder der sich nach dem ersten Mord aus unterschiedlichsten Motiven entfernt oder die Reise abbricht, macht sich verdächtig. Es ist ein interessanter Kontrast zwischen diesem „moralischen“ Gefängnis und der wie eingangs erwähnt außerordentlichen teuren Suche nach dem ultimativen Vergnügen.  Dabei gibt sich Bigger sehr viel Mühe, einige exzentrische Figuren in dieser Reisegesellschaft zusammenzubringen.  Das beginnt bei dem Reiseleiter, dessen Unternehmen bessere Zeiten gesehen hat. Er ist auf der einen Seite auf seine Gäste und eine erfolgreiche Tour angewiesen, auf der anderen Seite möchte er einige zurück in ihre Hinterwäldler Regionen schicken. Der Leser kann sich auch nicht sicher sein, ob er manchmal aus Verzweiflung zum Täter geworden ist. Wie alle Charlie Chan Romane ist der Plot vor allem von Dialogen vorangetrieben worden. Direkte Actionszenen gibt es so gut wie keine, auch wenn die Schüsse sowohl auf Duff als auch später auf Charlie Chan – ein Novum – als letzte Warnung des Täters verbucht werden könnten. Alle anderen Morde finden abseits der direkten Erzählebene statt, so dass Biggers auf einen klassischen Spannungsaufbau teilweise zu sehr zu Gunsten einer sich manchmal zu ruhig entwickelnden Handlung verzichtet.

Auch wenn die Struktur mit einem sehr spät erscheinenden Charlie Chan und dem anschließend sehr gedrängt aufgelösten kriminaltechnischen Plot nicht der getragenen Erhabenheit der ersten Bände entspricht, unterhält „Charlie Chan carries on“ auf einem zufriedenstellenden Niveau. Auffallend ist, dass Earl Derr Biggers aber kein Reiseschriftsteller ist. Auch wenn die Protagonisten von einem Ort zum nächsten Reisen und dabei an mondänen Plätzen aussteigen, hat der Leser an keiner Stelle das Gefühl, einen wirklichen Reiseroman zu lesen. In dieser Hinsicht ist Agatha Christie leider Biggers in mehrfacher Hinsicht voraus. Die Britin bemühte sich, eine Balance zwischen Unterhaltung und Flair zu finden.             

  • Broschiert, 252 Seiten
  • Verlag: Heyne (1984)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453106814
  • ISBN-13: 978-3453106819
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