Der 1930 geborene und 2008 verstorbene Edward D. Hoch ist schon Zeit seines Lebens in Vergessenheit geraten. Im Laufe der vielen Jahre – seine erste Kriminalgeschichten erschienen in den vierziger Jahren – hat er mehrere Dutzend Romane und mehr als eintausend Kurzgeschichten vor allem in den Bereichen Krimi/ Thriller, Science Fiction und Mystery veröffentlicht. 35 Jahre lang erschien in jeder Ausgabe des „Ellery Queen Mystery Magazines“ eine Kurzgeschichte von Edward D. Hoch. Zu seinen Schöpfungen gehört der Ermittler Nick Velvet, aber auch der zweitausend Jahre alte koptische Priester Simon Ark, dessen Fälle eher in den Bereich der Mystik „abgeschoben“ werden können oder Geheimagent Alexander Swift, der vor allem in den Weltkriegen aktiv gewesen ist.. In den letzten zehn Jahren hat die Mystery Press die wichtigsten seiner Kurzgeschichten in verschiedenen thematisch nicht immer sehr gut geordneten Sammelbänden zusammengefasst. Der letzte Band dieser kleinen Werksausgabe fasst insgesamt zwölf „Sherlock Holmes“ Storys zusammen, die in erster Linie ab den achtziger Jahren in entsprechenden Anthologien bzw. mit wenigen Ausnahmen in „Ellery Queens Mystery Magazine“ veröffentlicht worden sind. In seiner kurzen Einleitung spricht Edward D. Hoch selbst davon, dass er während einer Krankheit als kleiner Junge einen Sammelband mit allen Sherlock Holmes Geschichten geschenkt bekommen hatte, die ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollten.
Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die erste Geschichte dieser Sammlung „The most dangerous Man“ Sherlock Holmes nur am Rande erwähnt. Minutiös wird der perfekte Bankraub geplant. Der Professor – am Ende gibt Edward D. Hoch ihm unnötigerweise seinen Namen zurück – beschreibt den Plan in alles Details. Nicht unbedingt originell, aber notwendig ist, dass ein unscheinbarer Mann für eine gewisse Zeit seine Wohnung freiwillig verlassen muss. Auch Arthur Conan Doyle hat dieses Motiv in einigen seiner texte verwendet, so dass der Brückenschlag zum „gefährlichsten“ Mann eher folgerichtig als originell ist. Mit knapp fünf Seiten kann Edward D. Hoch nicht unbedingt Spannung aufbauen, aber die minutiösen Beschreibungen eines viktorianischen Bankraubes bilden eine gute Einleitung für diese Sammlung. Im Kern hat Edward D. Hoch die grundlegende Prämisse einem Remake unterzogen, das in vielen Punkten sehr viel herausfordernder und spannender ist als die Auftaktgeschichte dieser Sammlung. In „The Cristmas Client“ werden Sherlock Holmes und Doktor Watson von einem berühmten Schriftsteller und theoretischem Mathematiker aufgesucht, der von Professor Moriarty wegen unzüchtiger Bilder von minderjährigen Mädchen erpresst wird. Die Übergabe des Geldes soll an einem in Gedichtform verklausulierten Ort und zu einer verschlüsselten Zeit erfolgen. Hoch hat sehr viel Spaß, sowohl das Werk des Erpressten in die laufende Handlung einzubauen als auch den Konflikt zwischen Professor Moriarty und Sherlock Holmes zu manifestieren. Wieder muss der berühmte Detektiv den ausgelegten Spuren beginnend mit einer eher zufälligen Begegnung folgen und wieder ist es ein spektakulärer, aber teilweise auch aus „The monst dangerous Man“ vertrauter Plot, den Sherlock Holmes durchkreuzen muss. Die Idee, einem anderen Schriftsteller zu begegnen, wird in mehrfacher Hinsicht noch einmal sowohl in „A Scandal in Montreal“ – Holmes begegnet einem seiner humoristischen literarischen Kritiker – als auch „The Adventure of the Anonymous Author“ angesprochen. Hier geht Edward D. Hoch noch einen Schritt weiter und fügt einen der Herausgeber des „Strand“ Magazines hinzu, die Sherlock Holmes und Doktor Watson bitten wollen, eine bislang anonym publizierende Autorin zur Buchveröffentlichung ihrer Novelle zu überreden. Die Kurzgeschichte wirkt aber uneinheitlich konzipiert und einige der Anspielungen für der Hinweis auf das Sherlock Holmes vertraute Pseudonym, unter dem die Autorin den Scheck eingelöst hat, versanden im Verlaufe der sehr geradlinigen Ermittlungen, in denen es im Grunde nur einen einzigen Täter geben kann. Es ist schade, dass der Autor das humoristische Potential dieser Geschichte – alleine Holmes Abneigung gegen Watsons Geschichten im „Strand“ Magazin hätte für einige Seitenhiebe ausgereicht – verschenkt, so dass nur eine weitere geradlinige, im Verhältnis zur Tat und Aufklärung von einer zu langen Exposition dominierte kurzweilig zu lesende Story herauskommt.
Es ist immer eine Herausforderung, eine von Arthur Conan Doyles Original Sherlock Holmes Geschichten fortzusetzen. Und wenn es sich dann auch noch um „The Speckled Band“ handelt, erscheint es fast Blasphemie. Auch wenn Edward D. Hoch seine Story profan „The Return of the Speckled Band“ betitelt hat, baut der Plot nicht nur auf der Sherlock Holmes Story auf, er nutzt die überlebenden Charaktere. Anscheinend hat der perfide Mörder nicht nur über eine Schlange verfügt, sondern zwei. Henry Dade hat inzwischen das Leben eines Zigeuners aufgegeben und sucht den berühmten Detektiv auf, weil sein Bruder anscheinend ebenfalls über eine Schlange verfügt und seine Frau Sarah damit bedroht. Edward D. Hoch folgt den Mustern des Originals inklusiv eines Mordes und doch dreht er den Plot während der finalen Bedrohung – wieder sitzen Sherlock Holmes und Dr. Watson nachts im Dunkeln in einem Zimmer und warten auf den Täter – um einhundertachtzig Grad. Hoch spielt mit der Erwartungshaltung der Leser und sowohl die Entlarvung des Täters und vor allem die Abfolge des Mordes in der direkten Gegenwart des Detektivs sind eine Überraschung. Es ist eine intelligente Extrapolation der Vorlagen, die Arthur Conan Doyle auf einem Tablett seinen Nachfolgern hinterlassen hat, die ein sehr erfahrener Kurzgeschichtenautor wie Hoch zu einer der besten Geschichten dieser Sammlung zusammenbaut.
In „The Adventure of the Cipher in the Sands“ nimmt sich Edward D. Hunt die Geschichte um die tanzenden Männchen zum Vorbild. Eine Leiche wird am Ufer der Themse gefunden, im Sand sind seltsame Zeichen und in der Hand hält er einen Spielchip aus einem nahe gelegenen Casino. Die Zusammenhänge mit der Arthur Conan Doyle Story sind vage und ob der Täter wirklich seine „Erinnerungen“ auf diese Art mit sich führt, muss in Frage gestellt werden. Es ist vielleicht auch eine der wenigen Stories dieser Sammlung, in denen Sherlock Holmes am wenigsten deduzieren, sondern einfach nur den überall ins Auge fallenden Spuren folgen muss, um schließlich den überraschten Täter zu stelen.
Edward D. Hochs insgesamt zwölf Geschichten spielen fast zu allen Zeiten des Kanons. So ist „The Adventure of Victoria, the Circus Belle“ im Jahre 1885 angesiedelt. Einem Jahr, in dem Doktor Watson mit dem Aufzeichnen der Fälle nicht nachgekommen ist und diese Begegnung mit einem perfiden Mord erst später aufschreiben musste. Eine junge Frau fühlt sich von ihrer Rivalen um eine wichtige Rolle im Zirkus bedroht. Anscheinend ist zumindest ein Anschlag auf ihr Leben verübt worden. Ein Kollege ist durch das Trinken von Gift ums Leben gekommen. Sherlock Holmes und Doktor Watson besuchen den Zirkus. Nicht zum letzten Mal in dieser Sammlung findet der eigentliche Mord – in diesem Fall an ihrer „Auftraggeberin“ – in ihrer unmittelbaren oder zumindest mittelbaren Gegenwart statt. Der Mord ist auch der Schlüssel zur Aufklärung des Verbrechens, dessen Plan auf den ersten Blick sehr kompliziert und riskant erscheint, auf den zweiten Blick aus der unbestechlichen Perspektive des die Fakten am Ende in klassischer deduzierender Manier zusammenfassenden Detektivs aber perfide wie perfekt ist. Eine besondere Note erhält diese Geschichte, weil der Täter sich auf eine interessante Art und Weise ein Alibi für seinen Mord verschaffen wollte, während der Name Sherlock Holmes schon von der ersten Begegnung an genauso bekannt gewesen ist für das zugrunde liegende Motiv. Eine dritte Geschichte mit zumindest auf den ersten Blick mörderischen Tieren ist „The Manor House Case“, wobei die Mordserie, zu deren Aufklärung Sherlock Holmes und Doktor Watson gerufen werden, sich gänzlich anders verhält als vor allem vom Leser, aber auch längere Zeit von Sherlock Holmes gedacht. Ob es Zufall oder Absicht ist, kann nicht geklärt werden, aber Edward D. Hoch hat den zugrunde liegenden Plot mit dem Toten, alle eine Spielkarte in der Hand haltend, eher Agatha Christie positiv entlehnt. Es ist aber auch eine der Storys, in denen Sherlock Holmes erst durch ein letztes Puzzlestück, einen im Grunde unwichtigen Nachnamen dem Täter auf die Spur kommt.
Leider leidet eine der potentiell besten Storys dieser Anthologie „A Scandal in Montreal“ unter der Idee der Wiederholung. Edward D. Hoch hat für die Identität des Täters die gleiche Idee genutzt wie in „The Manor House Case“, wobei „A Scandal in Montreal“ insgesamt zwölf Jahre später als eine der letzten Sherlock Holmes/ Edward D. Hoch Episoden veröffentlicht worden sind. Der schon lange zurück gezogen lebende Sherlock Holmes wird von Irene Adler nach Montreal gebeten, um die Unschuldig ihres Sohns zu beweisen, der wegen Mordes angeklagt geflohen ist. Die Begegnung zwischen der Frau und Sherlock Holmes wirkt sehr wenig emotional und distanziert beschrieben. Der eigentliche Fall ist eher stringent und wenig überraschend dargestellt, da Edward D. Hoch in keiner der hier veröffentlichten Storys auf Täter zurückgreift, die in letzter Sekunde von außerhalb das Geschehen betreten. Bewusst oder Unbewusst sind der Leser und Sherlock Holmes den durchgehend Mördern immer schon begegnet. Auch handelt es sich im Grunde nur titeltechnisch um eine Anspielung auf die berühmte Doyle Vorlage, denn ein richtiger Skandal entwickelt sich nicht. Es handelt sich eher um eine tragische Dreierbeziehung.
Viele der Geschichten dieser Sammlung wie „The Addleton Tragedy“ um einen ermordeten Archäologen verbindet aber noch ein anderes Element. In Arthur Conan Doyles Geschichten ist der Detektiv immer von Unschuldigen zu Hilfe gerufen worden. „The Addleton Treagedy“ ist unabhängig vom sehr komplizierten, aber leider nicht komplexen Plot einer der Texte, in denen zumindest einer der Täter die Nähe des Detektivs sucht, um ihn von seiner zu diesem Zeitpunkt eher rudimentären Spur abzulenken. Nicht immer gelingt dieses Ablenkungsmanöver und in der vorliegenden Geschichte stellt sich dem Leser unwillkürlich die Frage, ob Sherlock Holmes ohne die entsprechende Einladung den Fall überhaupt hätte aufklären können.
„The Adventure of the Domino Club“ ist eine der Storys, in denen Rache für in den Tod getriebene Menschen das Motiv sein könnte. Sherlock Holmes wird gebeten, einen jungen Mann in einen der geheimen Spielclubs zu begleiten, in denen vor allem die Obrigkeit maskiert und damit als Gleiche unter Gleichen spielt. Der Auftraggeber hat eine junge Frau als Mann verkleidet gebeten, ihn zu begleiten. Jetzt scheint sie spielsüchtig zu sein. Es kommt während Sherlock Holmes und Doktor Watsons Aufenthalt tatsächlich zu einem Mord, wobei Edward D. Hoch die Auflösung durch eine banale, aber sehr auffällige Bemerkung zu früh weg schenkt. Der Hintergrund mit dem bizarren Spielclub hätte für eine ganze Novelle ausgereicht, so bleibt ein eher banaler Fall, in welchem der verdächtigste Täter nicht der Mörder ist. Zumindest erkennt Sherlock Holmes, das Roulette kein Spiel ist, mit dem er sich nach seinen Spielverlusten noch anfreunden wird. Zusammen mit „The Christmas Client“ zeichnet „The Adventure of the Domino Club“ aber ein dunkles Bild der Weltstadt London mit seinen kleinen und großen Sünden, die im Dunkeln und Geheimen ausgelebt werden.
Habgier ist auch eine Triebfeder bei einigen der Texte. In der zweiten Weihnachtsgeschichte „The Christmas Conspiracy“ geht es um eine junge Frau, die relativ schnell ein im Grunde wertloses Grundstück am Meer verkaufen soll. Der Vertrag soll während einer Weihnachtsfeier abgeschlossen werden. Die Auflösung der Geschichte ist ein wenig zu opportunistisch und die Motive des Täters, den Spieß zumindest teilweise umzudrehen, zu ambivalent, aber zumindest verweist Edward D. Hoch bei der Grundidee auf den bekannten Spionageroman „Das Rätsel der Sandbank“, der als literarische Spielerei auf diesem Fall Sherlock Holmes basieren sollte. Es ist nicht die einzige literarische Anspielungen in den hier gesammelten Geschichten.
Im Jahre 1998 erschienen mit Edward D. Hochs „The Adventure of the Dying Ship“ und dem ersten Band der „Desaster“ Serie „The Titanic Murders“ von Max Allan Collins zwei Geschichten, in denen es um einen Mord bzw. eine Mordserie an Bord des berühmten Luxusliners während seiner Überfahrt nach New York geht. Hier enden nicht die Ähnlichkeiten. Beide Texte verwenden Jacques Futrelle als beteiligten Protagonisten, dem Autor der „Thinking Man“ Kriminalgeschichten, dem amerikanischen Gegenwart zu Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes Geschichten. Futrelle ist an Bord der „Titantic“ mit seiner Frau gewesen und als Gentleman mit dem Schiff untergegangen. In Edward D. Hochs Story trifft er auf Sherlock Holmes, der von der Reederei zu dieser Jungfernfahrt eingeladen worden ist. Sherlock Holmes fährt als John Smith mit, obwohl ihn jeder zu kennen scheint. Er wird von einer jungen Frau gebeten, den „Fremden“ zu stellen, der sie verfolgt. Es stellt sich heraus, dass es sich um ihren Ehemann handelt, als dieser kurz nach der Begegnung mit dem Eisberg tot am Ende des Fahrstuhlschachtes gefunden wird. Der Kriminalfall wird von Eward D. Hoch in bekannter Manier relativ zügig mit nur einem in Frage kommenden Verdächtigen abgehandelt. Es ergibt sich aber ein anderes Problem im Verlaufe dieser historisch gut recherchierten, am Ende aber abweichenden Geschichte. Futrelle ist mit dem Schiff untergegangen und Sherlock Holmes ist selbst im hohen Alter zu sehr Gentleman, als das er diesem Beispiel nicht gefolgt wäre. Um eine Antwort zu finden, beugt Hoch zu „Lasten“ Futrelle heroisierend die Geschichte und findet eine Lösung für Sherlock Holmes. Am Ende gibt es noch eine Erklärung, warum Arthur Conan Doyle die Geschichte so lange zurückgehalten hat. Es ist der einzige Texte, der ausschließlich aus Sherlock Holmes Perspektive in dieser Sammlung erzählt worden ist. Der Kriminalfall ist eher mäßig interessant, die Begegnung zwischen Futrelle und seiner Inspiration dagegen sehr gut mit einem Auge für die Kleinigkeiten geschrieben worden. Es ist schade, dass Hoch diesen Text insbesondere im direkten Vergleich mit dem auf der emotionalen Ebene sehr guten „The Titanic Murders“ Roman nicht zu einer Novelle ausgebaut hat. Potential ist ausreichend vorhanden. „The Adventure of the Dying Ship“ ist nicht die letzte Geschichte, die Hoch geschrieben hat. Sie ist in der internen, aber nicht konsequenten eingehalten historischen Chronologie die zeitlich letzte Story und vielleicht durch die Nebenfiguren vor allem wenn der Leser Max Allan Collins Roman und vielleicht einige von Futrelle Stories gelesen hat die Stimmigste. Ein würdiger Abschluss dieser Anthologie.
Im Vergleich zu vielen anderen Autoren, welche Sherlock Holmes vor allem als Namensgeber für ihre dann doch nicht Kanon getreuen Texte nehmen, folgt Edward D. Hoch in vielen der hier vorliegenden Geschichten den „Gesetzen“ Arthur Conan Doyles und lässt Sherlock Holmes die Fälle manchmal ein wenig zu spät alleine durch seine Beobachtungsgabe und den daraus folgenden logischen Schlüsseln lösen. Auffällig ist zusätzlich, dass es sich immer um Mordfälle handelt und selbst in Bedrängnis geratene „Täter“ der potentiellen Milde des Gesetzes überlassen werden. Wie erwähnt kommt in keiner der Geschichten der Mörder von „außen“. Er ist dem Leser immer weniger oder leider auch manchmal zu auffällig vorgestellt worden. Edward D. Hunt imitiert aber Arthur Conan Doyles sehr gut und schafft eine vertraute Atmosphäre. Er bewegt sich vor allem mit kleineren Seitenanmerkungen immer im Bereich des Kanons und verzichtet auf literarische Experimente, auch wenn sich ein oder zweimal die Grundprämissen wiederholen. Am ehesten lässt sich dieser Zwölferpack genießen, wenn der Leser sich Zeit zwischen den einzelnen Geschichten nimmt.
- File Size: 1010 KB
- Print Length: 173 pages
- Publisher: MysteriousPress.com/Open Road (November 26, 2013)
- Publication Date: November 26, 2013
- Language: English
- ASIN: B00GH2G8PQ
- Text-to-Speech: Enabled
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