Versunkene Städte

Paolo Bacigalupi

Auch wenn der Klappentext es nicht expliziert andeutet, Paolo Bacigalupis zweiter Jugendbuchroman "Versunkene Städte" spielt in der gleichen desolaten und unwirtlichen Welt wie sein Erstling "Schiffsdiebe". In den USA wird "The drowned Cities" als Mittelteil einer Trilogie gesehen. Neben dem bekannten, aus einer noch düsteren Perspektive erzählten Hintergrund ist das Halbwesen Tool ein verbindendes Element mit "Ship Wreaker". Der für den Kampf gezüchtete Halbmensch mit hündischen Genen erinnert nicht zufällig an die Schöpfungen des "Dr. Moreau". Auch zwischen den Zeilen an Mary Shelleys Frankenstein. Ein künstliches Wesen, das der Mensch gegen Gottes Willen erschaffen und viel schlimmer verdorben hat. Erst die Begegnung mit einem jungen Mädchen - in diesem Roman endet sie nicht tragisch - bringt die geschundene Kreatur wieder auf den rechten Pfad.
Neben diesen auf den ersten Blick klischeehaften, aber ausgesprochen intelligent in die Handlung integrierten bekannten Versatzstücken überzeugt Bacigalupis Fähigkeit, eine dunkle, düstere und unwirtliche Zukunft zu erfinden, die im Grunde nur um die Ecke liegt. In "Schiffsdiebe" beschrieb er die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen überwiegend der Kinder oder Jugendlichen auf den Schiffsfriedhöfen der dritten Welt, die es in die Form schon heute gibt. In "Versunkene Städte" sind es nicht nur die Kindersoldaten aus Afrika, welche der Autor den Lesern übertragen auf die überwiegend versunkenen USA vorführt, sondern eine konsequente Weiterentwicklung der gegenwärtigen Isolationspolitik der Amerikaner, die in der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung genauso gipfelt wie in einem wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgrund des Überstreckens der eigenen Fähigkeiten, Resourcen und schließlich auch Reserven. Im Vergleich allerdings zu vielen anderen Jugendbuchautoren verzichtet Bacigalupi auf einen belehrenden Unterton und beschreibt diese schockierend realen Zustände sachlich, distanziert und selbstverständlich. Wie es sich für gute Jugendbücher gehört, müssen seine überwiegend sympathischen, aus der geistlosen Masse herausragenden Protagonisten aus ihren nicht selten inneren Gefängnissen ausbrechen, die an Sklaverei erinnernden Lebensumstände hinter sich lassen, um innerlich wie äußerlich frei zu sein. Am Ende der Bücher beginnen sie ein neues, hoffentlich besseres Leben, wobei der Hang zum positiven Happy End nach so viel Seelenqual, grausamen Tode und schließlich der Aufgabe der bisherigen Existenz teilweise wie ein aufgesetzter Kompromiss erscheint.
"Versunkene Städte" ist dabei das Schwierige der beiden Jugendbücher. Während "Schiffsdiebe" den Leser auf den ersten Seiten mit den realistischen Beschreibungen der Kinderkolonen in den gestrandeten und auszuschlachtenden Schiffen förmlich erdrückte, legt Bacigalupi nach dem dramatischen, Tool aktiv in die Handlung einführenden Prolog mehr Wert darauf, die Lebensumstände seiner beiden Protagonisten Mahlia und Mouse auf einer größeren "Bühne" zu erläutern. Mahla stammt aus einer der versunkenen Städte. Durch die globale Erwärmung und die ansteigenden Meerespegel sind viele amerikanische Metropolen im Meer versunken. Mit ihnen ist die Dominanz der amerikanischen Kultur im Gleichschritt mit den schwindenden Erdölvorkommen untergegangen. Mahlias Mutter war eine Amerikaner, ihr Vater ein Offizier der chinesischen Friedenstruppen, die verzweifelt versucht haben, die marodierenden Banden innerhalb der Städte zu bekämpfen und Frieden zwischen den Städten aufrechtzuerhalten. Frustriert zogen die Chinesen erfolglos ab. Sie hinterlassen eine Reihe von Bastarden, die gesellschaftlich auf der Stufe mit dem Nutzvieh stehen. Mahlias Mutter ist während einer der Auseinandersetzungen ermordet worden, ihr rechter Arm wurde verstümmelt. Zusammen mit dem Waisen Mouse lebt sie in einer kleinen Siedlung und hilft dem örtlichen Arzt - eine Art Vaterfigur, den Bacigalupi wahrscheinlich absichtlich so überlebensgroß und an die schwarzweißen Abenteuerfilme erinnernd charakterisiert hat - bei der Heilung der Kranken. Angefeindet wird sie immer wieder von den kleinen örtlichen Milizgruppen, die aus Frust die einzelnen Siedlungen überfallen und mangels Beute teilweise auch niederbrennen. Zu den beeindruckenden Szenen gehört Mahlias Unverständnis für die Menschen, die sich lieber töten lassen, als das sie die wenigen noch vorhandenen Bücher mit dem Wissen der Menschheit durch die Soldaten verbrennen lassen. Mouse dagegen wirkt eher wie ein unscheinbarer Junge, der auf Mahlias Ideen nur reagieren kann.
Ihr Leben ändert sich erst, als sie Tool begegnen, der in einer spektakulären Aktion seinen Wächtern entflohen ist. Ab diesem Augenblick entwickelt der Autor ein interessantes Dreierszenario. Während Tool sich vor seinen unbarmherzigen Jägern schützen will, braucht er auf der anderen Seite die Hilfe der Jugendlichen. Insbesondere Mahlia erhofft sich im Gegenzug Hilfe von Tool, dem sie aber erst die Grundbegriffe von Menschenliebe und Hilfsbereitschaft wieder beibringen muss. Im Vergleich zum ersten Jugendbuch „Schiffsdiebe“ verfügt Paolo Bacigalupi mit Mahlia über einen deutlich differenzierteren Charakter. Sie wird von allen im Dorf geschnitten und als Chinesenhure beschimpft. Ihre Verletzung, die ihr die eigenen Landsleute zugefügt haben, isoliert sie noch mehr von der Gemeinschaft. Im Gegensatz zur Bauernschläue der in den Schiffsgeweiden arbeitenden Jungen und Mädchen aus „Schiffsdiebe“ ist Mahlia noch in einer anderen Hinsicht von ihrer Umwelt isoliert. Sie träumt von der Rückkehr ihres Vaters, den sie als General der Friedenstruppen sieht. Das die Kontingente keine Lösung für die zwischen den armseligen Gemeinden schwelenden Konflikte im Köcher haben, wird dem Leser im Vergleich zu Mahlia deutlich früher klar. Solange nicht in die Infrastruktur investiert und den Menschen eine Zukunft gegeben wird, können diese Söldnergruppen nicht ausgeschaltet werden. Es ist kein Zufall, das bis auf die versunkenen Städte die USA der Zukunft in diesem Roman an das Afrika der Gegenwart mit seinen Extremen erinnert. Mahlia hat sich ihr rudimentäres medizinisches Wissen selbst beigebracht. Der alte Dorfarzt als Vaterersatz mit seiner burschikosen Art ist ohne Frage der Ruhepol in ihrem Leben. Allerdings träumt sie davon, dieses kleine Dorf zu verlassen. Wie im Grunde alle Figuren in Bacigalupis bisher drei Romanen reagieren seine Charaktere nur auf äußere Umstände und wachsen innerlich wie äußerlich mit den Herausforderungen. Dabei stehen die rudimentären Familien, die sie um sich gruppieren, im Mittelpunkt ihres Handelns. Die „Schiffsdiebe“ nicht immer ganz überzeugend dominierende Liebesgeschichte wird im vorliegenden Roman eher hintergründig und deswegen nachhaltiger abgehandelt. Mahlia und Mouse sind in erster Linie Freunde und Überlebenspartner, während Tool zu ihrem Werkzeug wird. In dieser brutalen und dunklen Welt, die der Autor zeichnet und aus der es nur ein Entkommen gibt, wenn man sich den archaischen Spielregen unterwirft und sie besser beherrscht als der Gegner bleibt keine Zeit zum Atemholen und sich besinnen. Daher läuft der Entwicklungsprozess der einzelnen Figuren in einer eng positionierten Abfolge von brutalen Szenen ab. Natürlich tauschen Tools Jäger im ungünstigen Moment auf, während Paolo Bacigalupi auf eine von außen kommende Rettung in letzter Minute verzichtet. Es liegt an seinen Figuren alleine, die Hindernisse zu überwinden.

Obwohl der Hintergrund mit den versunkenen Städte im ersten Buch explizierter abgehandelt worden ist, vermisst der Leser angesichts des Titels eine tiefer gehende Erforschung der ehemaligen Zentren einer dekadenten, sich selbst überschätzenden Zivilisation. Es bleibt abzuwarten, wie der Autor die einzelnen roten Fäden im letzten Band zusammenzieht. Auch im Vergleich zu „Schiffsdiebe“ ist „Versunkene Städte“ auf den ersten Blick das deutlich schwächere Buch. Die Handlung ist nicht so stringent und kompakt konstruiert. Die Einführung in diese aus dem ersten Band zumindest teilweise bekannte und unangenehm vertraute Zukunftswelt läuft nicht über eine Art Paukenschlag ab, sondern die Fronten bewegen sich nach dem für ein Jugendbuch ausgesprochen brutalen Prolog sehr gemächlich aufeinander zu. Mit diesem Trick kann der Autor die nihilistische Stimmung konzentrierter aufbauen, fokussiert sich aber zu sehr auf die noch zu entwickelnden Figuren und streut angesichts des abschließenden Plots auch zu viele zu wenig erläuterte Hintergrundinformationen ein. Unabhängig von dieser Schwäche nutzt der Autor allerdings das fast klassisch klischeehafte „Coming of Age“ Thema ein zweites Mal, um aus der Perspektive der vordergründig schwächsten Glieder dieser primitiven Gesellschaft – Jugendlich überwiegend im Alter der Leser – eine barbarische Welt zu beschreiben, deren Wurzeln überdeutlich ohne belehrend zu erscheinen in die Gegenwart ragen. Hintergründig verfügt „Versunkene Städte“ im direkten Vergleich zu „Schiffsdiebe“ und inhaltlich stark an „The Wind Up Girl“ erinnernd über die interessantere, vielschichtigere Handlung unter Berücksichtigung deutlich weniger Schauplätze mit einem sehr starken Fokus auf die politisch ideologischen Irrwege der Gegenwart extrapoliert in die Zukunft und weniger positiv Wert legend auf eine stark konstruierte Geschichte von einem entschlossenen Jungen und einer reichen Erbin, die ihre Klassenunterschiede fast märchenhaft überwindend sich ineinander verlieben.           

  • Taschenbuch: 480 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (8. Juli 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453534468
  • ISBN-13: 978-3453534469
  • Originaltitel: The Drowned Cities