Schon der Titel "Immorality Engine" - Amoral oder Unsittlichkeitsmaschine - ist eine verspielte Variation des Plots, denn in Wirklichkeit geht es beim abschließenden Newbury und Hobbes Roman natürlich um Macht und einhergehend potentielle Unsterblichkeit. Sitte, Anstand und Moral spielen dabei keine Rolle. Die im Titel angesprochene Maschine gibt es in dieser Form nicht.
Im Vergleich zu den ersten beiden Titeln beginnt der abschließende dritte Band mit einem offenen Rahmen. Newbury und Hobbes besuchen eine Beerdigung. Die Handlung impliziert, dass Veronica Hobbes über seherische Fähigkeiten verfügende Schwester, die Jahre lang in einem Heim separiert von der Öffentlichkeit gelebt hat, verstorben ist. Im Verlauf der Handlung wird dem Leser klar, dass es zumindest in diesem Roman mehr als einen Tod geben kann. Der Auftakt ist ohne Frage effektiv, aber wie bei den ersten beiden Teilen der Serie scheint der Drehbuchautor George Mann beim Verfassen der Romane zu dominieren.
Im Vergleich aber zu anderen Trilogieautoren greift George Mann die offenen Fäden der ersten beiden Romane auf und versucht sie in die ausgesprochen stringente, cineastisch geschriebene Handlung zu integrieren.
Da wäre zum einen Newburys Drogenabhängigkeit. Zu Beginn des Romans müssen Virginia Hobbes und der Oberinspektor Scottland Yards Newbury wieder auf einer Drogenhöhle ziehen. Newbury selbst behauptet später glaubhaft, dass er sich verstärkt der Suche hingegeben hat, nachdem er bemerkte, dass Veronica Hobbes für Queen Victoria arbeitet und ihn anscheinend kontrollieren und ausspionieren will. Hinzu kommt die bislang noch viktorianisch zurückhaltende "Beziehung" zwischen der attraktiven Virginia Hobbes und dem ältlichen, aber geistig jung gebliebenen Ermittler Newbury. Die beiden zwischenmenschlichen Aspekte werden zufriedenstellend vorangetrieben, wobei die offensichtliche persönliche Spionage eher beiläufig geklärt, die Liebe dagegen mit einem innigen Kuss erklärt wird.
Handlungstechnisch beginnt der Roman mit dem Feind einer Leiche. Es handelt sich um eine Art Supereinbrecher, dem Scottland Yard schon lange auf der Spur ist. Nur liegt der schon seit zwei Tagen tot im Leichenhaus.
Übernatürliche Aspekte haben in dieser viktorianischen Steampunkreihe mit Sherlock Holmes Einfluss immer eine wichtige Rolle gespielt. Darum überrascht es den Leser ein wenig, dass George Mann die offensichtlichen Lösungen dieses Problems - archaisches Kloning – etwas zu sehr herausfordert und Newbury bzw. Virginia Hobbes grübeln lässt. Kaum haben sie zusammen mit dem Leser diese für die damalige Technik doch ein wenig überraschende und den bisherigen Romanen etwas entgegenlaufende Entwicklung akzeptiert, gehen die Ermittlungen sehr geradlinig voran. Positiv für den ganzen Roman ist, dass George Mann die bislang fast zu klassischen gut- böse Zeichnung seiner Protagonisten aufgegeben hat. Übliche Verdächtige wie der Veronica Hobbes Schwester behandelnde Arzt sind nicht mehr die offensichtlichen Hauptverdächtigen, obwohl dessen Handlungen und Motive genauso wenig ehrenwert sind.
Während der Ermittlungen stossen Newbury und Hobbes unter anderem auf eine Runde ehrenwerter Gentlemen, welche die alten verklärten Rittertugenden inklusiv der Legende um König Arthur wieder aufleben lassen möchte. Für diese vordergründigen Tugendwächter steht die mechanisch am Leben erhaltene Queen Victoria im Weg. ausgestoßen worden ist. George Mann greift nicht zum ersten Mal im Verlauf der Serie zu Doppelungen. So werden die Klone gleich an zwei sehr unterschiedlichen Stellen in London mit gänzlich verschiedenen Absichten gezüchtet. Die Rittergesellschaft sucht Macht und Unsterblichkeit; der Arzt und Leibtechniker Königin Victorias lebenswürdigere Bedingungen für die Königin und einen Blick in die Zukunft. ZU wenig herausgearbeitet und einer notgedrungen in den Plot integriert erscheint der Fakt, dass es bislang nur bei Veronica Hobbes Schwester geklappt hat, während der Orden potentielle leblose Körper in Reihe produziert. Auch die Ideen des geklonten Diebes ist zu wenig nachhaltig in die Handlung integriert worden. Hier hätte man mehr draus machen können.
In Bezug auf Königin Victoria in ihrer lebensverlängernden Flüssigkeit führt George Mann die bisher eher oberflächlichen Möglichkeiten bis zu einem zynischen Ende fort. Victoria wandelt auf einem schmalen Grad zwischen Machtgier und Wahnsinn. In dieser Hinsicht kann der Leser das Vorgehen des Ritterordens, aber weniger ihr Handwerkzeug verstehen.
Hobbes und Newbury müssen im Grunde zu wenig echte Ermittlungsarbeit leisten. Viele Fakten fallen ihnen entweder durch einen Zufall in die Hände oder die verschiedenen Schurken neigen wieder zu Monologen in der Traditionen der „James Bond“ Schurken, in denen sie den beiden Ermittlern stellvertretend für die Leser viele, aber vielleicht nicht alle Hintergründe erläutern. Zumindest unterliegt der Plot nicht mehr den starken Zufallströmungen des ersten Buches, wobei der Showdown bei weitem nicht so spektakulär und visuell niedergeschrieben worden ist wie bei „Affinity Bridge“.
Die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren ist zufrieden stellend und warmherzig. Obwohl Opiumsüchtig kann sich Newbury in den entscheidenden Szenen aus der Droge befreien und mit einigen brachialen, aber nicht überraschend Aktionen das Blatt wenden. Das Misstrauen zwischen Newbury und Hobbes wird relativ schnell überwunden. Danach vergewissern sie sich ebenso schnell ihrer Gefühle. Zumindest steht die potentielle zukünftige Beziehung nicht der eigentlichen Handlung im Wege. Bislang gehörte die Fähigkeiten von Veronicas Schwester, bedingt in die Zukunft zu sehen, zu den störenden Elementen dieser Steampunksaga. Sie nahm insbesondere im ersten Band einigen Entwicklungen die innere Spannung. Der abschließende Roman geht positiv sehr viel mehr auf Amelias Schwester ein. Sie wird noch mehr zu einem tragischen Opfer verschiedener Umstände und ein Spielball insbesondere Königin Victorias und ihres willigen Helfers Dr. Fabians. Dr. Fabian wird mehr und mehr von einem opportunistisch Arzt zu einer Schlüsselfigur Victorias, wobei die Zusammenhänge mit den Wissenschaftlern des Ritterordens zu konstruiert und deren passives Beobachten von Fabians überraschender Entwicklung zu unwahrscheinlich erscheinen.
Strukturtechnisch scheint die zweite Hälfte des Buches förmlich dahin zu fliegen, während die erste Hälfte unter der notwendigen, aber wie schon angesprochen nicht gänzlich befriedigenden Extrapolation der verschiedenen Plotelemente ein wenig leidet. Trotzdem gelingt es George Mann mit einigen Einschränkungen - der wenig zufrieden stellende, offene Rahmen mit einer wenig überraschenden und inkonsequenten Auflösung - auch in diesen Szenen dank seiner markanten Figuren und vor allem seiner Fähigkeit, das viktorianische England mit einigen Exkursen in die Welt des Steampunks - Mörderspinnen oder Butlerroboter - sowie die archaische Gentechnik - die verschiedenen Klone - lebendig werden zu lassen, auf solidem Niveau zu unterhalten. „Immorality Engine“ fasst die ganze Trilogie sehr gut zusammen und hat auf die meisten offenen Fragen zumindest Antworten, was man dem gefällig zu lesenden George Mann nicht hoch genug anrechnen kann.
George Mann: "The Immorality Engine"
Roman, Softcover, 432 Seiten
Piper Verlag 2012
ISBN 9-7834-9270-2751