Mit “Ein dunkler Wille” liegt nach “Düsteres Verlangen” der Mittelteil der “Frankenstein” Brüder Trilogie aus der Feder des kanadischen Jugendbuchautoren Kenneth Oppel vor. Der deutsche Titel ist nicht ganz günstig gewählt, denn im Gegensatz zum bisher bekannten älteren Frankenstein und seiner wissenschaftlich untermauerten Idee, neues Leben aus totem Fleisch Gott gleich zu erschaffen, ist Victor von Frankenstein im vorliegenden zweiten Roman nicht dunklen Mächten Untertan. Das Gegenteil ist der Fall. Er fühlt sich schuldig am Tod seines älteren Bruders, der mit ihm zusammen um die schöne Elizabeth geworden und die Nase vorn gehabt hat. Er unterliegt wie wahrscheinlich jeder Mensch in dieser Situation, nach einem unheilvollen, alchemistischen Schlüssel zu greifen, um seinen Bruder doch noch zu retten. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Neugierde und der sich zurückentwickelnden Arroganz wirkt Victor von Frankenstein ungewöhnlich reif und am Ende des Romans sogar einsichtig, sich selbst opfernd. Erst als dieser ultimative Schritt abgelehnt wird, überschreitet er die Grenze zwischen wissenschaftlichem Junggenie und Wahnsinnigen. Der Epilog deutet aus der “Frankenstein” Saga bekanntes an. Interessanterweise konzentrieren sich die ersten beiden Bücher dieser Trilogie auf die Alchemie - “Düsteres Verlangen” - und auf in erster Linie jüdisch archaische Sagen, wobei Oppel die Golem Legende zumindest impliziert mit Robert E. Howards wilden archaischen Barbarenwelten - der Leser kommt sich vor, als wenn Überreste aus Howards Piktenwelt im späten 18. Jahrhundert ans Tageslicht drängen - munter kreuzt.
Wenige Wochen nach Konrads Tod und der verbitterten Erkenntnis, dass das Elixier des Lebens trotz der Opferung zweier Finger nur ein Mythos gewesen ist, werden alle Bücher der dunklen Bibliothek verbrannt. Nur ein einziger Band mit einem metallenen Einband übersteht die Flammenglut und zieht Victor Frankensteins Neugierde auf sich. Es stammt aus der Zeit Wilhelm Frankensteins, des Patriarchen, der vor mehreren Jahrhunderten die Familie gegründet hat. Es verspricht einen Zugang in das Zwischenreich der Toten. Wie im ersten Buch müssen Elizabeth, Victor und ihr gemeinsamer Freund Henry erst verklausulierten Hinweisen folgen, bis sie im Dachgewölbe der seit vielen Jahren nicht mehr genutzten Kapelle - ein Ironie, die beinahe im Verlaufe der Handlung verloren geht - einem Himmel gleich den Zugang zu einem Geisterreich finden. Gleichzeitig arbeitet ein Archäologe in den Gewölben unter dem Anwesen der Frankensteins und findet archaische Knochen eines anscheinend dort vergrabenen Wesens. In der Zwischenwelt stoßen Henry, Elizabeth und Victor nicht nur auf Konrads Geist, der dort quasi auf den Eintritt in den Himmel wartet, sondern auf den Geist eines jungen Mädchen, das angeblich vor einigen Jahrzehnte ebenfalls in dem Anwesen gestorben ist. Victor schwört, seinen Bruder auf diesem Limbo zu befreien, obwohl er weiß, dass er dann Elizabeth wieder an ihn verlieren könnte.
“Ein dunkler Wille” ist ohne Frage ein interessanter Mittelband, der allerdings mehr Fragen aufwirft als das er beantworten möchte. Während sich Oppel dank seines zu neugierigen Heldens zumindest zum Teil mit präindustrieller Wissenschaft in Kombination mit einem Schuss Alchemie auseinandergesetzt hat, liegt der Fokus des vorliegenden zweiten Bandes ausschließlich auf Alchemie, Mythen und zutiefst religiösem Glauben. Der letzte Punkt ist ein interessanter Widerspruch, das weder die Frankensteins im Allgemeinen noch Victor sonderlich gläubig sind. Dagegen ist Elizabeth nicht nur streng katholisch erzogen worden, sie wäre das einzige Mitglied dieser kleinen Gruppe, dass nicht nur an Gott, sondern das Paradies im Himmel glauben müsste. Dieser Glaubenkonflikt ist zu schwach ausgebildet, zumal auch die Idee, den Körper eines Menschen aus Ton formen und in der Erde reifen zu lassen, einer gläubigen Christin wie Blasphemie erscheinen muss. Der Widerspruch zwischen Elizabeths Erziehung und ihrer Begierde Konrad gegenüber wird zu wenig nachhaltig herausgearbeitet, zumal es sich Kenneth Oppel abschließend zurückblickend auch zu einfach macht, in dem er einen weiteren dunklen, zu mächtigen Willen in die Handlung integriert. Damit erlöst er auf der einen Seite Elizabeth ohne Frage von ihrem Glaubenskonflikt, stiehlt sich aber bezüglich einiger hochbrisanter wie zeitloser Fragen auch aus der Verantwortung. Im Gegensatz zum ersten Band der Serie kann Kenneth Oppel erstaunlich wenig mit Elizabeth anfangen. Ihre scharfzüngigen Kommentare vermisst der Leser. Hinzu kommt, das die sehr attraktive heranwachsende Frau mit dem Hang zum Klostereintritt das Objekt der Begierde aller aktiv am Geschehen beteiligter Jünglinge ist. Nicht nur Konrads Geist und Victor Frankenstein versuchen um Elizabeth nicht immer mit fairen Mittel zu kämpfen, auch Henry greift mit einem in der Realität Lord Byron zugeschriebenen Gedicht in das Geschehen ist. Dabei ist sein Motiv außer der sehr ungewöhnlichen Anziehungskraft der jungen Frau genauso wenig herausgearbeitet wie der hinter Konrad stehende Geist, der ohne zu viel vom Plot zu verraten eher an einen archaischen Slasher als eine wirklich nachhaltige Bedrohung erinnert. Als Figur selbst zeigt Elizabeth erste zarte Muttergefühle, wobei Kenneth Oppel auch hier Grenzen überschreiten lässt, welche die Elizabeth aus dem ersten Band nicht toleriert hätte. Aber immer wenn “Ein dunkler Wille” zum Hinterfragen herausfordert, präsentiert Kenneth Oppel mit einem gefährlichen Einfluss Antworten, die vordergründig zufrieden stellend, hintergründig aber zu einfach konzipiert sind.
Während Elizabeth neben dem eher ambivalenten und zu eindimensionalen Henry eher enttäuschend charakterisiert worden ist, versucht Kenneth Oppel aus Victor Frankenstein einen latent klassischen “Helden” zu schmieden, der gar nicht dem Bild des ausschließlich überheblichen und sich selbst überschätzenden Wissenschaftlers aus zahllosen Filmen oder Shelleys Originalvorlage ähnelt. Am Ende sollte Kenneth Oppels fiktive Trilogie an Shelleys herausfordernden Roman anschließen und die Grundlagen der Forschungen präsentieren, die Shelleys Antiheld schließlich am toten Objekt umsetzen sollte. Zum ersten Mal wird dieser Bogenschlag wie schon erwähnt am Ende des vorliegenden zweiten Teils der Trilogie deutlich. Über weite Strecken entfernt sich Kenneth Oppel in “Ein dunkler Wille” sogar von diesem unabänderlichen Ziel, in dem Victor Frankenstein nach jedem Strohhalm greifend die Wissenschaftlich komplett ignoriert. Die Reisen in die Zwischenwelt sind eine große Überraschung. Oppel umschifft jegliche religiöse Motive und stellt dieses Nirvanna schließlich als eine Illusion in der Tradition zahlreicher “Ghost” Verschnitte dar, aber die Idee, aus Ton und Knochen einen neuen Körper für Konrad heranwachsen zu lassen, wirkt doch wie ein Rückschritt im Vergleich zu den modernen Thesen des Auftaktbandes. Natürlich lässt sich argumentieren, dass Victor in einer Mischung aus Verzweifelung, Schuldbewusstsein und schließlich auch Frustration über sein Scheitern auf der Suche nach dem Elixier des Lebens einen gänzlich anderen Weg zu beschreiten sucht. Während er im ersten Band nach Wissen ohne Rücksicht auf Verluste gesucht hat, wirkt der Charakter ein wenig zugänglicher im zweiten Teil der Serie. Oppel versucht aber, zu viele Elemente zu gleich in der fiktiven Luft zu halten. Es ist eher wahrscheinlich, dass Victor alles versucht, seinen Zwillingsbruder Konrad aus dem Totenreich zu holen als ständig an Elizabeth zu denken. Die Niederlage gegenüber Konrad am Ende des ersten Buches war überdeutlich gewesen. Oppel versucht, Victor wieder auf dem Feld der Ehre durch einige kleinere Gestern Elizabeths aufholen zu lassen, aber dieser Wettkampf mit ungleichen Voraussetzungen wirkt zu stark konstruiert, zumal Oppel auch hier von dem charismatischen Egomannen aus Shelleys Roman nicht zu stark abweichen darf. Er braucht einen starken, aber keinen sympathischen Protagonisten, an dem sich der Leser reiben kann, dessen zukünftige Wurzeln aber auch erkennbar sind. Ein schmaler Grad, auf dem sich der Autor bewegt. Dieser Balanceakt ist ihm im ersten, sehr viel einfallsreicheren Buch besser gelungen.
Der Plot ist deutlich stringenter als der Auftaktband. Hier liegt vielleicht auch die größte Schwäche des „Dunklen Willens“. Der erste Band kam aus dem Nichts. Eine originelle Vorgeschichte, in deren Verlauf der Leser nicht nur die Konflikte zwischen Konrad, Victor und Elizabeth kennen lernte, in dem der später größte „Wissenschaftler“ des viktorianischen Zeitalters Opfer seiner Naivität und Leichtgläubigkeit geworden ist. In letzter Sekunde scheiterte Victor auf hohem Niveau. Diese Originalität überträgt Kenneth Oppel nur teilweise in den vorliegenden Roman. Auch wenn mit der Geisterwelt, in der sich Konrad aufhält, ein neues Element der Handlung hinzugefügt worden ist, folgt Kenneth Oppel im groben dem Handlungsskelett des ersten Bandes. Wieder ist der aktive Victor Frankenstein das Opfer einer Manipulation. Erst spät erkennt bzw. ahnt er im Gegensatz zu Henry oder Elizabeth, dass hinter den Ereignissen ganz andere Intentionen stehen als vorhersehbar. Das Victors Handlungen zu gänzlich anderen Zielen führen könnten, als von den Jugendlichen beabsichtigt und das eine wichtige Figur nicht das ist bzw. beabsichtigt, was sie Victor Frankenstein vorgegaukelt hat. In abgewandelter Form mit latent anderen Prämissen kennt ein aufmerksamer Leser alles aus dem ersten Band. Nur Victors Motivation, diesen alchemistisch mystischen Weg zu kennen, ist nicht nur eine andere, sondern vor allem überzeugender präsentierte. Der emotionale Konflikt zwischen Elizabeth und Victor entwickelt sich nicht weiter. Er wird nicht komplizierter oder komplexer, sondern erscheint mit den schon angesprochenen anderen Einflüssen eher wie eine Art MacGuffin. Die Auflösung des Buches ist zu abrupt, zu hektisch im Vergleich zu der erstaunlich langen, dramatisch überzeugenden Einführung zu Beginn des Plots. Oppel setzt seine Figuren wieder auf die Positionen zurück, auf denen sie am Ende des ersten Buches beim Schachspiel ihres gemeinsamen Lebens/ Überlebens gestanden haben. Sie haben alle aus den nicht guten Erfahrungen gelernt, aber insbesondere Victor stacheln sie an, auf den Weg der Wissenschaft zurückzukehren und die manipulierende Alchemie ganz zu lassen. „Ein dunkler Wille“ ist kein schlechter Roman. Stilistisch sehr ansprechend erschafft Kenneth Oppel eine überzeugende viktorianische Atmosphäre mit eckigen Charakteren, in denen man die späteren Shelley Figuren teilweise schon erkennen kann. Es ist aber auch keine konsequente Weiterentwicklung des Schicksals der Brüder Frankenstein, sondern eine Variation der zweiten Hälfte von „Düsteres Verlangen“. Es bleibt abzuwarten, in wie weit Kenneth Oppel erfolgreich seine unterhaltsame Trilogie vor Shelleys „Frankenstein“ andocken kann.
Kenneth Oppel: "Ein dunkler Wille"
Roman, Hardcover, 379 Seiten
Beltz & Gelberg 2013
ISBN 9-7834-0781-1332