Die Vergessenen

Neil Asher

Neil Ashers "Die Vergessenen" - im Original paßt "The Technician" ein wenig besser - ist ein weiterer Einzelroman in seinem bekannten und markanten Universum. In doppelter Hinsicht führt der Autor den Leser an den Anfang seiner  Ian Cormac Serie zurück. Die Handlung spielt für Asher vielleicht sehr überraschend ausschließlich auf dem Masada, einer Welt die im zweiten Roman "Der Erbe Dschainas" vorgestellt worden ist und mit den Drachen über Geschöpfe, die Neil Asher schon im ersten Buch eingeführt hat. Es ist nicht unbedingt notwendig, diese im Bastei Verlag teilweise mit neuen Titelbildern aufgelegten Arbeiten zu kennen. Es erhöht aber das Lesevergnügen, zumal Neil Asher in den fast zehn Jahren nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Produktivität sich als Autor weiterentwickelt hat und die ursprünglich in diesen Arbeiten präsentierten Konzepte inzwischen sehr viel nuancierter, weniger provokativ und brutal beschrieben werden.

 

Obwohl Neil Asher die Handlung auf einen Planeten konzentriert, versucht er diese Stringenz durch einen für den Leser schwierigen Einstieg komplizierter erscheinen zu lassen als sie in Wirklichkeit ist. Der Autor springt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her, die teilweise 20 Jahre auseinander liegen. Durch die zusätzlich wechselnden Perspektiven wird der Leser stellenweise eher irritiert als unterhalten. Natürlich sind Ashers Arbeiten niemals einfach zu lesen, aber wie in dem schon angesprochenen "Der Erbe Dschainas" versucht der Autor zu viel auf einmal zu präsentieren und macht dabei auch noch den kleinen Fehler, zusätzlichen Ballast aufzubauen, der nicht notwendig ist.

Mit Jeremiah Tombs verfügt er im Gegensatz zu seinen ansonsten überdimensionalen Helden über einen gebrochenen Charakter. Dieser ist vor zwanzig Jahren - dem frühesten Einsetzen der Handlung - von einem mystischen Wesen angegriffen worden. Er ist bislang der einzige Überlebende der Übergriffe dieser Kreatur. Sie hat nicht nur seinen Körper verstümmelt und seine Genitalen "gestohlen" - ein Aspekt, den Asher überbetont -, sondern anscheinend auch etwas mit seinem Verstand angestellt. Erst im Verlaufe der nach dem ersten Drittel deutlich stringenter werdenden Handlung wird der Leser erfahren, dass das Wesen anscheinend Informationen in seinem Verstand verborgen hat. Auch wenn Asher inzwischen ein eigenständiger Autor ist, fühlt sich der Leser hinsichtlich des Anfangs ein wenig zu sehr an Alfred Besters  "The Stars, my Destination", in der auch der Protagonist durch die Begegnung mit dem Fremden verändert worden ist. Asher bemüht sich, bei der Charakterisierung Tombs eine richtige Balance zu finden. Durch die zahlreichen Operationen und künstlichen Prothesen ist er in der Lage, sich zu bewegen. In der bizarren Gesellschaft ist er trotzdem ein Außenseiter, der Mitleid erweckt. Mitleid, weil er nicht bei dem Angriff ums Leben gekommen ist.  Löst sich Asher allerdings von dieser Vorlage und fügt dem Roman zahlreiche interessante Informationen hinsichtlich seiner bisherigen Schöpfungen hinzu, gewinnt "Die Vergessenen" nicht nur an Tempo, Tombs wird auch zu einem deutlich nuancierter gestalteten Charakter.

 

Mit Tombs taucht im Grunde ein Überlebender einer Ära wieder auf, die Asher schon längst beerdigt hat. Auf der religiösen Ebene des Romans, die sich stellenweise im Hintergrund, bei anderen Büchern dominierend wie ein roter Faden durch Ashers Werk zieht kämpft Tombs gegen die für ihn unglaubliche Vorstellung an, das die Theokratie kurz nach dem Angriff auf ihn untergegangen ist. Vielleicht wirkt es ein wenig überzogen, die auf den Kopf gestellten Machtverhältnisse derartig krass abzugrenzen. Nach zwanzig Jahren müßte es selbst bei den zahlreichen Säuberungen und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen immer noch ausreichend Anhänger der Theokratie auf Masada geben, so dass sich Tombs nicht ganz einsam fühlen muss.  Auf der anderen Seite dürfen diese Hintergrundaspekte die Entwicklung des Plots nicht zu stark hemmen. An einigen Stellen hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als versuche Asher auszubrechen und wie in seinen letzten Romanen den Plot viel zu stark aufzugliedern, Nebenhandlungsarme zu eröffnen, um dann ein wenig überhastet die ganzen roten Fäden beschämt für den brutalen Showdown wieder teilweise notdürftig zusammenzulegen. Der Autor fängt sich aber schneller wieder und dank der überschaubaren Anzahl von gut charakterisierten Figuren bleiben diese literarisch stilistischen Exzesse in einem erträglichen Rahmen.   

 

Für Fans von Ashers Werk beinhaltet „Die Vergessenen“ einen gänzlich anderen, sehr viel interessanteren Aspekt. Zum ersten Mal kehrt der Autor im Grunde zu einem seiner Schauplätze zurück und erläutert die Leser, wie diese bizarre und durch „Der Erbe Dschainas“ bekannte Welt mit ihren zahlreichen Kreaturen überhaupt entstanden ist. Dabei bewegt sich der Autor geschickt durch das bisher von ihm extrapolierte Universum und fügt ohne belehrend zu agieren die Hintergrundinformationen durch seinen Suchenden Tombs dem Kosmos hinzu. Da Tombs aus einer zeitlichen Distanz von zwanzig Jahren diese Veränderungen erblickt, bleibt der Leser auf Augenhöhe. Im Grund erschließen sich beiden gleichzeitig die Wunder und Schrecken dieser Welt, wobei als zynischer „Höhepunkt“ der Leser sehr viel vertrauter als der Protagonist mit Masada ist. Masada ist ein Planet, der sich von der Herrschaft der Polity mit ihren orbitalen Habitaten zu erholen sucht. Die Quarantäne ist nach Jahren aufgehoben und die ehemaligen wie Sklaven gehaltenen Arbeiter versuchen eine soziale Ordnung herzustellen, die immer noch brüchig ist. Die Ausbildung von ökonomisch tragbaren Strukturen geht aber nicht mit der Zähmung des Planeten einher. Sehr zu Gunsten des ganzen Romans bleibt Masada ein wilder Planet. Noch komplexer mit anderen Büchern ist die Verzahnung hinsichtlich der künstlichen Geschöpfe. Die Kriegsdrohne Amistad ist auch einigen anderen Asher Romanen bekannt. Hier kann der Leser im Grunde ihre Karriere verfolgen. Die abtrünnige künstliche Intelligenz Penny Royal spielt zwar auch eine Rolle, aber sie wirkt insbesondere im Vergleich zu ihren bisherigen Auftritten ein wenig zu eindimensional beschrieben. Den zynischen Verschwörerkreis schließt Ex- Rebell Lief Grant, der Tombs Leiden unter seinem Angreifer hautnah verfolgt hat. Asher bildet daraus natürlich eine sehr unharmonische Gruppe, die sich während der seine Romane bestimmenden Suche finden müssen, um auf Masada überleben zu können. Vielleicht hätte die Ausbildung einer ungleichen Gruppen ausgereicht, aber die klischeehaft Idee, dem wieder erweckten Tombs einen Auftragsmörder nachzuschicken negiert viele gute Aspekte des Romans. Für den Leser untrüglich zu erkennen ist, dass Tombs Wahnvorstellungen einer unter den Teppich gekehrten „Realität“ entsprechen. Selbst mit seinen fast übertriebenen gezeichneten Antagonisten kann der Autor dieses Manko nicht ausgleichen. Zu oft ist man ähnlichen Konstellationen in seinen Romanen begegnet.

Mit Blue überspannt der Autor dann allerdings den Bogen. Die Vergleiche zu James Camerons Frauen aus „Avatar“ unterminieren im Hinterkopf des Lesers die Einzigartigkeit von Ashers Schöpfungen.

 

Zu den Stärken des Buches gehört wieder die Beschreibung der fremden Flora und Fauna. Das beginnt bei den Kunstwerken, welche die mystische Figur aus seinen Opfern macht. Tombs durchbricht im Grunde als einziger Überlebender den Schöpfungskreislauf, der rückblickend weniger brutal oder an eine futuristische Serienkillergeschichte erinnernd, sondern zu einer verzweifelter Botschaft wird, welche die Menschen nicht hören können oder als abschließende Ironie vielleicht auch nicht hören wollen.   

 

Trotz einiger angesprochener Schwächen – überzogene Antagonisten, welche Tombs Suche mehrfach hätten beenden können – gehört „Die Vergessenen“ zu Ashers besseren Romanen. Fans des Autoren werden seinen vor Ideen überquellenden sehr eloquenten Schreibstil genauso lieben wie seine Fähigkeit, wirklich fremde Welten zu erschaffen. Die teilweise sehr überzogenen Action der ersten Bände inklusiv der überdimensionalen Waffen hat er deutlich zurückgefahren und räumt seinen vielschichtigen wie bizarren Protagonisten und immer gleichberechtigt künstlichen Geschöpfen jeglicher Art mehr notwendigen und zur Tiefe des ganzen Buches beitragenden Raum ein. Hinzu kommt aber eine interessante Grundhandlung, die sich so stark von ähnlich konzipierten Benedict Geschichten McDevitts unterscheidet, das sie wieder zu einem Vergleich einlädt.

  • Taschenbuch: 576 Seiten
  • Verlag: Bastei Lübbe (Bastei Lübbe Taschenbuch); Auflage: Aufl. 2013 (19. Juli 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3404207238
  • ISBN-13: 978-3404207237
  • Originaltitel: The Technician