Halligspuk

Jög Kleudgen & Uwe Voehl

 Der Blitz Verlag legt in seiner H.P. Lovecraft- Schriften des Grauens Reihe eine erweiterte Storysammlung Jörg Kleudgens und Uwe Voehls als handliches Taschenbuch neu auf. In ihrem Vorwort erläutern die beiden routinierten Weird Fiction Autoren die Entstehung dieser Geschichten- und Legendensammlung. Halloween 2003 verbrachten die beiden auf der Hallig Hooge uns saugten neben der einzigartigen Atmosphäre der Halligen auch eine Reihe von Legenden auf. Ein Jahr später erschien in einer limitierten und signierten Sammlerausgabe der „Edition CL“ der erste „Halligspuk“. Bislang scheiterte eine Neuauflage, obwohl weitere Texte vorlagen. Im Jahre 2023 schrieb das Hooger Tourismusbüro Uwe Voehl an. Die Geschichten sollten an den markanten Punkten auf der Insel mittels Audiodatei den Besuchern zur Verfügung gestellt werden.  Parallel interessierte sich Jörg Kaegelmann für eine Neuauflage dieser inzwischen um vier Geschichten erweiterten Anthologie.

 Vergangenheit und Gegenwart spielen in den hier gesammelten Geschichten unterschiedliche Rollen. Manchmal sind es Touristen, die mit der sagenhaften Vergangenheit im Gegensatz zum Seemannsgarn konfrontiert werden. Andere Texte basieren ausschließlich auf den Legenden, die meistens in einer stürmischen Nacht im einzigen Dorfkrug der Insel möglichst im Kerzenschein von den Alteingesessenen erzählt werden. Faszinierend sind alle Texte, auch für Landraten, welche den Begriff der Hallig das letzte Mal in ihrer Schulzeit gehört haben.

 Jörg Kleudgen eröffnet die Sammlung mit „Was Kapitän J. Bandix von seiner großen Fahrt mitbrachte“. Damit erschlägt der Autor gleich zwei wichtige, eng miteinander verbundene Themen. Die Halligbewohner haben nicht nur von der Seefahrt, sondern vor allem vom gefährlichen Walfang gelebt. In der zweiten Story „Das Phantom im Nebel“ geht Uwe Voehl auf einige Details dieser grausamen Jagd auf die Meeressäuger näher ein. Bandix ist der einzige Überlebende einer Walfangflotte. Mehr als dreihundert Seeleute sind ums Leben gekommen. Auf die Hallig heimgekehrt verbarrikadiert er sich in seinem Haus, bis ihn Kinder in einer stürmischen Nacht aufschrecken. Er hatte eine alte Seemannskiste mitgebracht, die er versteckt und nur heimlich in der Nacht mitgebracht hat. Der Titel ist ein wenig irreführend, denn „was“ Kapitän Bandix mitgebracht hat, wird nicht abschließend erläutert. Nur „das“ er etwas Seltsames, Geheimnisvolles und vielleicht auch Gefährliches mitgebracht hat, steht abschließend fast. Jörg Kleudgen leitet wie Uwe Voehl mit „Das Phantom im Nebel“ die Anthologie mit klassischen Seemannsgarn Geschichten ein.

 Bei Uwe Voehl findet ein Touristenehepaar eine seltsame, alte Pfeife im Schlick. Sie scheint warm zu sein, als wenn sie erst kürzlich geraucht worden ist. Niemand kann ihnen wirklich Informationen über die Pfeife geben. Allerdings folgt dem Paar nach dem Fund ein Mann in Schwarz. Der Leser ahnt relativ schnell die Zusammenhänge. Schließlich will er ja auch eine Gruselgeschichte lesen. Der historische Hintergrund mit einigen Beschreibungen tatsächlicher Gebäude auf der Hallig – das Museum, die Kirche und ihre Entstehungsgeschichte – sind faszinierender als der eigentliche Gruselplot, allerdings zeigt Uwe Voehl, wie stark eine Mutterliebe sowohl bei Tieren als auch Menschen sein kann. Der Blick zurück auf die grausame Jagd nach den Walen und damit leider auch der Querverweis in die Gegenwart mit den auch heute noch operierenden Walfangflotten hinterlässt einen deutlich mehr beklemmenden Eindruck als die möglicherweise phantastischen Elemente. Aber diese Balance zwischen realem und phantastischen Schrecken zeichnet gut geschriebene Horrorgeschichten aus und Uwe Voehl gehört zu den besten deutschsprachigen Autoren.

 „Vom Schicksal der Santa Lucrezia“ berichtet Jörg Kleudgen. Ein Insulaner will nach einem Streit mit seinem Bruder nicht bei ihm übernachten und macht sich nachts mit ordentlich Alkohol im Blut auf den Weg durchs Watt nach Pellworm. Er kommt nicht an. Der am nächsten Tag ausgeschickte Suchtruppe macht eine gänzlich andere Entdeckung. Jörg Kleudgen gelingt es, die Legende von den auf dem Meeresgrund ruhenden und wartenden Geisterschiffen in ein neues Gewand zu kleiden. Wie die beiden Autoren im Vorwort deutlich gemacht haben, folgen einige der hier gesammelten Storys der Erzähltradition Martin Luserkes, der heute eher wegen seiner Leistungen als Pädagoge denn als Schriftsteller zu Unrecht bekannt ist. Aber auch Karl Heinrich Ulrich hat wenige vergleichbare Storys geschrieben. Das Ende ist typischer Seemannsgarn. Fatalistisch und irgendwie auch anrührend. Ob sich ein Kreis geschlossen ist, liegt außerhalb der Perspektive des Betrachters, aber möglich wäre es schon. 

 „Der schwarze Fething“ sowie „Die schwarze  Marit“ - Uwe Voehl & Jörg Kleudgen in Koproduktion – könnten thematisch zusammenhängen, wobei die zweite Geschichte einzelne Aspekte des ersten Textes aufnimmt und auf einer anderen Ebene extrapoliert. An Silvester verliert eine junge Frau ihren Mann an die See. Zusammen mit den anderen Männern wollte er Schiffbrüchigen helfen, rettet zwei Seelen vor dem Meer und stirbt selbst dabei. Eine Zeit später ist die junge, nur bei ihrer Mutter lebende Frau schwanger. „Die schwarze Marit“ ist die Frau, die von einer auf die Insel gekommenen Künstlerin aus der Großstadt gemalt worden ist. Allerdings kann sie diese ebenfalls schwangere Frau gar nicht kennen, da sie vor vielen Jahrhunderten unter geheimnisvollen Umständen nachts wahrscheinlich in der Flut ums Leben gekommen ist. Die Künstlerin ist Großvaters Jugendliebe (platonisch). Nach seinem Tod findet der Enkel nicht nur das Bild der jungen Frau, sondern auch Briefe, welche sie von der Insel anscheinend ihrem Verlobten auf dem Festland geschrieben hat. Die beiden Autoren variieren die Themen. Während „Der schwarze Fething“ – der Fething spielt auch in der zweiten Story eine kleine Rolle- eher eine H.P. Lovecraft Hommage ist und nicht klar herausarbeitet, wer wirklich das Monster ist, agieren die beiden Autoren in der zweiten Sammlung auf mehreren Ebenen. „Die schwarze Marit“ ist in dreifacher Hinsicht eine tragische Liebesgeschichte, welche die Frauen an den Rand des Wahnsinns, vielleicht sogar einen Schritt weiter treibt. Stimmungsvoll sind beide Storys, wobei die Pointe inklusiv der Verbindung zwischen dem schwarzen Fething und dem Meer kraftvoller erscheint, während „Die schwarze Marit“ eine der zahlreichen Tragödien ist, die sich nicht nur im Anschluss an die großen Kriege abspielten.

 „Der Sturmflutmann“ von Uwe Voehl verbindet die stetige Angst vor der finalen Flut mit dem Widerstandswillen der Menschen, die auf den Halligen leben und arbeiten. Eines Tages kommt ein Mann auf die Insel, baut sein Zelt auf und zeigt Filme der großen Sturmflut. Die Touristen sind begeistert, die Kinder werden verführt. Am Ende drohen sich cineastische Fiktion und bittere Realität miteinander zu verbinden. Vielleicht ist die Auflösung der Geschichte zu simpel, zu pragmatisch, aber Uwe Voehl beschreibt eindrücklich, wie sich die Menschen stoisch stolz auf die drohenden Sturmfluten vorbereiten; nach Abschluss dieser Arbeiten ängstlich aufs Meer hinausblicken und beten, dass es schnell vorbeigeht. Wie Uwe Voehl in seinem kurzen Nachwort erläutert, gibt es auf Hallig Hooge es tatsächlich eine filmische Zusammenhang der großen Sturmfluten, die nicht nur Rungholt vernichtet haben. Mit der vorliegenden Geschichte hat dieser Sturmflutmann allerdings nicht zu tun.  

 „Der Höllenpesel“ der beiden Autoren ist eine von mehreren Geschichten, in denen die Protagonisten langsam den Verstand verlieren. Es bleibt offen, ob es dafür reale Auslöser gibt. Ein junges Mädchen ist der Ansicht, dass ihr Klassenkamerad im Ofen einer alten Frau verschwunden ist. Wie im Märchen von Hänsel und Gretel. Ihr Onkel begleitet sie zu dem natürlich einsam gelegenen Haus, um die Angelegenheit zu klären. Die Wendung der Ereignisse ist in dieser kürzeren Geschichte zu wenig nachhaltig vorbereitet. Sie überrascht zwar den Leser, wirkt aber rückblickend auch konstruiert, um der wagen Vermutung ein gewisses Fundament zu schenken.

 Jörg Kleudgens „Der fliegende Holländer“ ist die beste Geschichte dieser Sammlung. Das liegt weniger am Plot, der mit dem Widergängermotiv den Mechanismen dieses Subgenres folgt, sondern an der von Beginn gut entwickelten Atmosphäre. Der Rahmen könnte direkt aus „Der Schimmelreiter“ stammen. Eine stürmische Nacht, eine seltsame Vision und dann eine von den Einheimischen erzählte Tragödie um Gier und Mord. Mit der Lorenbahn, welche die Halligen lange Zeit alleine mit dem Festland verbunden hat und heute auch nicht in Benutzung ist, hat Jörg Kleudgen eine weitere Einzigartigkeit dieser Nordseelandschaft gut in die Geschichte integriert. Auch die einzelnen „Morde“ ergeben rückblickend einen Sinn. Der Titel der Geschichte bezieht sich auf den holländischen Krämer Jan, der auf der Hallig einen kleinen Laden betreibt und schließlich im übertragenen Sinne keine Ruhe mehr finden wird. Allerdings benötigt er dafür keine Schiff, eine Lore reicht ihm. Die Atmosphäre der Story ist stimmig, die raue Umgebung wird gut in die Story integriert und die unheimlichen Begegnungen, meistens in der Nacht, steigern sich von einem grotesken Höhepunkt zum Nächsten. Würde man die Geschichte auf die Grundelemente reduzieren und einem Dritten erzählen, wäre sie vielleicht nicht so spannend, aber Jörg Kleudgen entwickelt daraus ein passendes Garn für stürmische Nächte in den einsamen Schenken auf den vom Wind umtosten Nordseeinseln. 

 „Schnee, der auf Seeigel fällt“ und „Die Begegnung“ - beide von Uwe Voehl-  sind weniger Gruselgeschichten als bizarre, vielleicht auch ein wenig groteske Spielereien. Dabei ist „Die Begegnung“ mit ihrem ironischen Unterton eher ein Miniatur Stillleben. Der Erzähler folgt den Spuren im Sand um die Insel herum, die sich verändern, bis er schließlich nicht nur am Ausgangspunkt, sondern vielleicht auch dem Startpunkt von etwas mehr ankommt. In „Schnee, der auf Seeigel fällt“ reist ein Freund nach einer beunruhigenden Nachricht zur Hallig Hooge. Sein Freund hat dort als Archäologe gearbeitet, aber im Grunde etwas gänzlich anderes gefunden.

 Deutlich naturalistischer ist „Von der verschwiegenen Entdeckung des versunken Rungholts“ aus Jörg Kleudgens Feder. H.P. Lovecraft trifft Rungholt. Zwei Forscher sind der Ansicht, das sie endlich die in einer Jahrhundertflut versunkene, legendäre wie verfluchte Stadt Rungholt gefunden haben. Sie machen sich während einer besonderen Ebbe auf den Weg zu den Koordinaten. Einer der einflussreichen Bewohner Hooges folgt ihnen. Wie bei H.P. Lovecraft ist die Reise interessanter als der vorgefundene reale oder eingebildete Schrecken. Jörg Kleudgens Beschreibung von Rungholt und dessen gotteslästerlichen Treiben fasst die meisten Legenden gut zusammen. Die Realität ist natürlich eine Andere. Seine Geschichte ist eine gute Einladung, die verschiedenen Berichte über die Suche und schließlich auch die wahrscheinliche Entdeckung dieser frühen, reichen und vom Meer verschlungenen Handelssiedlung nachzulesen. Die Verbindung zwischen übernatürlichem Schrecken und realem Hintergrund ist den beiden Autoren in einer Reihe der hier gesammelten Storys überdurchschnittlich gut gelungen. Rungholt bildet nur einen atmosphärisch stimmigen Abschluss.

 Die erweiterte Neuauflage von „Halligspuk“ ist nicht nur für Nordseefans (oder Anwohner/ Bewohner) eine Lektüre wert. Wer die Nordsee und ihre Gezeiten; das Leben auf den Halligen und schließlich auch die besondere Atmosphäre dieses unwirtlichen, aber auch herausfordernd schönen Naturlandstrichs noch nicht kennt, erhellt neben einigen interessanten Schreckensmomenten einen gut recherchierten und mit viel Liebe zum Detail niedergeschriebenen ersten Einblick.  Wer diese einzigartige Gegend schon kennt, dessen Erinnerungen werden auf eine wunderbare Art und Weise unterhaltsam aufgefrischt. Die Plots der Geschichten wirken manchmal ein wenig mechanisch, dem Unbilden des Meeres unterworfen, aber die Zeichnung der Halligbewohner; das herausfordernde und doch auch süchtig machende Leben auf den kleinen Hügeln mitten im Meer sind aus dem Leben gegriffen und entschädigen in mehrfacher Hinsicht. „Halligspuk“ ist eine einzigartige, aus den angesprochenen Gründen auch lesenswerte Kurzgeschichtensammlung und nach der Lektüre kann der Leser verstehen, warum die Tourismusagentur Uwe Voehl kontaktiert hat, damit die Geschichten da vorgelesen werden, wo sie auch hingehören. In die dunklen Herzen der Nordsee

Taschenbuch, 186 Seiten

direkt beim Verlag bestsellbar

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