Nach Horst Pukallus und Thorsten Küper präsentierten die Herausgeber Michael Haitel und Michael Iwoleit in ihrer „Cutting Edge“ Reihe sieben Geschichten von Tom Turtschi. Drei der Storys sind Erstveröffentlichungen, drei weitere Texte erschienen im NOVA Magazin, eine Arbeit in der Zeitschrift für „Informatik und Gesellschaft“.
Wie in seinen beiden ebenfalls im p.machinery Verlag bislang publizierten Romanen spielt Tom Turtschi mit bekannten Genreelementen, modernisiert sie mit pointierten Mono-, aber auch Dialogen und kommt teilweise zu überraschend innovativen neuartigen Lösungen. Seine Texte sind immer weniger experimentell um ihrer Selbst willen, sondern versuchen bestehende Strukturen unter der Nutzung von Nerds – Michael Iwoleit weißt auf diesen roten Faden in Turtschis Werk in seinem Nachwort gesondert hin – anders, aber nicht unbedingt schrill grell zu beleuchten. Ein weiterer Hinweise sind immer wieder Gärten, eine persönliche Note, welche in die Texte einfließt. Auch zu diesem Aspekt hat sich Michael Iwoleit in seinem Nachwort geäußert, das durch den Verzicht auf inhaltliche Aspekte der Geschichten auch als Vorwort gelesen werden kann, wenn sich Leser erst mit dem Autoren und später erst mit diesen Werk auseinandersetzen möchten.
„Faites Vos Jeux“ beginnt mit nicht mit der Katastrophe, sondern deren Auswirkungen. Der Protagonist hat Zeit seines Lebens von den Sternen, der Suche nach dem neunten Planeten verbracht. Eine kommerzielle Firma ermöglicht ihm diesen Traum. Er lässt seine Freundin und deren alternative Lebenseinstellung auf der Erde zurück. Ein schrecklicher Zufall trennt ihn von seinem Raumschiff. Alleine treibt er im All, nur am Rand des Sonnensystems. Keine Rettung ist möglich. Tom Turtschi fasst die Situation auf eine erstaunlich gelassene Art und Weise zusammen. Wie bei Sterbenden zieht vielleicht nicht das ganze Leben innerhalb von Sekunden vor den Augen des Astronauten dahin, sondern er erinnert sich an einzelne Episoden. Er stellt sich die Frage, ob der Weg dieses Ergebnis Wert ist. Vielleicht hätte der Autor das tragische Moment noch besser ausarbeiten können, wenn es nicht ein seltsamer Zufall, sondern „nur“ die reine Ignoranz der Arbeitsanweisungen gewesen wäre. Auf jeden Fall gelingt es dem Autoren, die Leser sehr nahe an seinen Protagonisten heranzuführen und einzelne Aspekte immer am Rande des Kitsches, aber keinen Schritt weiter zufrieden stellend herauszuarbeiten.
Ein klassisches Szenario – ein First Contact im Sonnensystem mit einem unbekannten Objekt – ist die Ausgangsbasis der zweiten Geschichte. Obwohl das Handbuch mehr als 3000 Seiten umfasst, ist der einzige Hinweis auf eine solche Begegnung im „Protokoll Delta Bravo“ der Hinweise, situativ und den Umständen entsprechend zu handeln- Der Protagonist mit seiner künstlichen Intelligenz EVE an Bord eines Raumschiffs wird auf ein Objekt aufmerksam, das unnatürliche Bewegungen ausführt. Es scheint ganze Asteroiden zu verschlingen. Als 93 Mienenarbeiter auf einem Asteroiden ebenfalls verschlungen wird und der Kurs des Objekts natürlich direkt zur Erde führt, sieht er sich auch gegen die Vorschläge der künstlichen Intelligenz an Bord zum Handeln gezwungen. Die Dialoge zwischen dem Astronauten und EVE sind köstlich, pointiert und doppeldeutig. Beide Positionen sind für den Leser nachvollziehbar. Die Lösung der Problematik wirkt ein wenig konstruiert und basiert auf mehr als Glück als Verstand bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit des Überlebens. Aber diese dramaturgisch ein wenig zu stark komprimierte Situation löst der Autor mit einem flotten Epilog auf, der selbst „Picknick am Wegesrand“ der Strugatzkis in einem markanten Satz zusammenfasst. Positiv verzichtet der Autor auf weitschweifige Erklärungen und präsentiert eine flott geschriebene First Contact Geschichte mit einem ein wenig abgehackten, aber zumindest für den Leser auf Augenhöhe zu verfolgenden Ende.
Aus Nova 28 stammt „Don´t be Evil“ in einem sehr expressiven Stil und politisch aktuell Ein Journalist berichtet aus der Kriegszone im Nahen Osten. Anscheinend ist dort „Frieden“ ausgebrochen. Allerdings beweist sein altmodisch geschriebener und aus der Zone geschmuggelter Brief eine andere Wahrheit. Der Autor packt eine Menge Ideen in seine intensiv geschriebene Story. Die Idee, im Hintergrund digital übermittelte Berichte ohne Wissen des Autoren zu verändern, zu relativieren, zu kürzen oder eine gänzlich andere Meinung einzubauen ist faszinierend und wird zugleich sehr einfach beschrieben. Das diese Art der Zensur der Nachrichten fast schon eine klassische, in Vergessenheit geratene Antwort bedingt ist die konsequente Pointe dieser atmosphärisch dunklen Geschichte, in welcher der Autor aber auch an einigen Stellen sehr eng am Rande des Klischees die Leser emotional manipuliert. Für die Kurzgeschichte ist der Autor 2020 mit dem Deutsche Science Fiction Preis für die beste Kurzgeschichte ausgezeichnet worden.
„Die Pinoccio- Abteilung“ – ursprünglich in Nova 29 erschienen - setzt sich dagegen vor dem Hintergrund einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung mit der Idee auseinander, was erstens den Menschen definiert und zweitens die Maschinen – das Ende gibt der Geschichte noch einmal eine pointierte Note – dazu bringt, menschlich mit nur wenigen Stärken, aber vielen Schwächen sein zu wollen.
Tom Turtschis „Neuromarketing“ ist die längste Geschichte dieser Anthologie und ist der Nova 30 Nummer entnommen. Es empfiehlt sich, den Plot in einem engen Zusammenhang mit den anschließenden Bemerkungen zu sehen. Der Autor macht deutlich, dass er aus der Zukunft und seinen technischen, den Menschen nicht unbedingt befreienden Ideen/ Erfindungen auf die Gegenwart zurückblickt und nicht nach den Wurzeln sucht, sondern Aktion/ Reaktion abwägt. Interessant dabei ist, dass Tom Turtschi trotz einer gewissen Technologiefeindlichkeit – wenn die Technik den Menschen erdrückt und nicht mehr unterstützt – auch bei einem nihilistischen Ende dem Protagonisten einen Augenblick der Interpretation schenkt, mit welcher er sich zumindest theoretisch aus einer intellektuellen Unmöglichkeit zu retten sucht. Die Grundidee eines Neumarketing, das wenige Stunden in die Zukunft das potentielle Kaufverhalten analysieren und dem Handel die Möglichkeit gibt, logistisch darauf zu reagieren, ist interessant. Tom Turtschi bringt seinen Protagonisten in die Klemme, das sein Unterbewusstsein im Grunde auf die „Käufe“ reagieren muss. Allerdings findet er in dieser auch dialogtechnisch sehr überzeugend geschriebenen Story an einem Wort klebend einen Ausweg.
Die dritte Erstveröffentlichung ist “Schrift und Schreiben”. Der Erzähler blickt im Dialog mit einer gegenwärtigen Generation vierzig Jahre in die Vergangenheit, anschließend vierzig Jahre in die Zukunft. Dabei geht es vor allem um die Sprache und damit auch die Schrift sowie die Art der Kommunikation. Insbesondere der Blick in die Vergangenheit mit Telefonzelle, Umdruckern und Schriftsetzern wird Tom Turtschis Generation – erst ist Jahrgang 1964 - mit Erinnerungen und damit auch den entsprechenden Anekdoten förmlich überfluten. In der Zukunft ist nicht nur die Art der Kommunikation, sondern auch die Sprache entsprechend verfremdet. Tom Turtschi gelingt es allerdings deutlich weniger, diese Zukunft so zu gestalten, das sie von der Substanz, aber vor allem auch der Gestaltung an die Vergangenheit heranreicht. Aber auf den zur Verfügung stehenden Seiten ist es dem Autoren gelungen, Alltägliches derartig vertraut und gleichzeitig auch verfremdet zu beschreiben, dass die Erinnerungen die Erwartungen an die Zukunft deutlich überdecken.
„Doppelblind- Mission“ ist in Zusammenarbeit mit Isabella Hermann für die Zeitschrift FifF entstanden. Das Thema hieß „Künstliche Intelligenz zieht in den Krieg“ und Tom Turtschi sollten den Science Fiction Part, Isabella Herman die wissenschaftlichen Erklärungen liefern. Beide Autoren sind bis zu einem gewissen Grad blind geflogen und Tom Turtschi macht von Beginn an klar, dass die wenigen zur Verfügung stehenden Seiten für seine Erzählart normalerweise nicht ausreichen. Das ist auch hier der Fall, denn seine aus zwei Perspektiven geschriebene Miniatur wirkt eher wie ein Fragment. Die wissenschaftlichen Erklärungen richten sich an ein Publikum, das sich in der Science Fiction so gut wie gar nicht auskennt. Es ist in dieser Kombination der schwächste Beitrag dieser Anthologie und rundet eher gewollt die umfangtechnisch kurze Anthologie ab.
Tom Turtschi hat auch das Titelbild dieser Ausgabe wie auch der Reihe gestaltet. Generell zeigen sechs der sieben Kurzgeschichten die thematisch Tiefe, aber auch die sprachliche Breite des relativen Genrenewcomers, der – wie eingangs erwähnt – klassische SF Themen ungewöhnlich und lesenswert aufbereitet. Wer vor seinen experimentellen inhaltlich allein stehenden Büchern noch zurückscheut, macht bei dieser Storysammlung nichts verkehrt, auch wenn Stammleser des NOVA Magazin gut vierzig Prozent des Inhalts schon kennen.
Tom Turtschi
PROTOKOLL DELTA BRAVO
Erzählungen
Mit einem Nachwort von Michael K. Iwoleit
Cutting Edge 3
p.machinery, Winnert, November 2023, 176 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 357 4 – EUR 15,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 747 3 – EUR 5,49 (DE)