Thomas le Blanc präsentiert sechs Autoren – der Herausgeber wird einfach mitgezählt- , die teilweise mehrfach vertreten Karl May im modernen Sinne, aber eng an seinem sechsteiligen Abenteuer Zyklus um den Schutt neu interpretiert haben. Eine zweite Anthologie mit weiteren Geschichten ist unter dem Titel „Die Stadt der Diebe“ in Vorbereitung.
Die Bestsellerautorin Tanja Kinkel ist eines der Verkaufsargumente dieser Anthologie. Auch zum „magischen Orient“ hat sie einen Epilog sowie eine Kurzgeschichte beigetragen. Mit der Titelgeschichte „Tochter der Wüste“ füllt die Autorin eine inhaltliche Lücke bei Karl May. Immer wieder wird betont, wie Hadschi Halef Omars Schwiegermutter Amscha mit der gerade geborenen Hanneh aus der Gefangenschaft geflohen ist. Im Gespräch mit Kara Ben Nemsi und der Begegnung mit einem Mann, der eigentlich Blutrache ausüben müsste, fügen sich die Lücken zusammen und präsentieren eine emotional ansprechende, aber nicht kitschige Geschichte, deren Epilog voller Optimismus hinsichtlich der Selbstbestimmung der arabischen Frauen ist.
Bei Monika Niehaus „Die Notoperation“ ist der Titel Programm. Der Plot mit dem Helden Karta Ben Nemsi, der unter Anleitung eines erfahrenen, aber verletzten Arztes an einem Jungen eine Operation vornehmen muss, ist weder noch neu originell. Aber die Zeichnung der Protagonisten überstrahlt der unzählige Male in der Abenteuerliteratur oder dem entsprechenden Kino Äquivalent verwandten Plot.
In Bianca M. Rieschers „Der Geisterberg“ retten Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar ein Mitglied der Tuareg vor seinen Feinden, die den Wüstensohn am liebsten in der Sonne braten lassen, damit kein Frieden zwischen den Stämmen herrscht und sich skrupellose Europäer weiterhin dieses Mal im Nahen Osten breit machen können. Der Geisterberg hilft den beiden Freunden genauso wie die Natur in dieser geradlinigen, aber erst gegen Ende Legende und Tatsachen verbindenden Geschichte. In ihrer zweiten Geschichte „Der Schatz von Troja“ machen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar bei der Verfolgung eines Verbrechers einen Abstecher nach Troja und finden bei ihren Ausgrabungsarbeiten einen seltenen Gürtel. Hadschi will in für seine Frau, der sie begleitende Sir David Lindsey möchte das Schmuckstück für sein Museum und Kara Ben Nemsi wird schließlich mit einer dritten Möglichkeit konfrontiert. Wie in den Sherlock Holmes Geschichten ist Gerechtigkeit nicht gleich Recht und Kara Ben Nemsi ist sich seiner Entscheidung nicht sicher, glaubt aber weiterhin an das Gute im Menschen.
In Kurdistan erfahren Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar von „Der Dschinn in der Festung“. Karl- Ulrich Burgdorf hat daraus eine tragische, zutiefst menschliche Geschichte gemacht, in welcher die Vorurteile der Menschen sich verselbstständigen, aber auch der Dschinn der Not und der Verzweifelung einem schönen Leben gegenüber mit dem Aberglauben der Menschen spielt. Es ist eine ruhige, besinnliche, aber deswegen nicht weniger spannend interessante und vor allem auch emotional ansprechende Geschichte, bis an den Rand des Kitsches entwickelt, aber keinen Schritt weiter.
Thomas le Blanc ist mit zwei Geschichten vertreten. In „Der Berg der Aramäer“ werden die Freunde auf einer Reise durch Kurdistan mit einer ungewöhnlichen Bitte konfrontiert. Sie sollen einen verletzten Mann zu seinen Freunden bringen. Sie wissen nicht, dass dieser Mann ein wichtiges Mitglied seines Volkes ist und von den Kurden gnadenlose gejagt wird. Thomas le Blanc entwickelt nicht nur einen interessanten, politisch traurigerweise bis in die Gegenwart strahlenden Plot, sondern er zeigt die sozialen Unterschiede zwischen den Kulturen überdeutlich auf und zeigt auf, das Kara Ben Nemsi als Gutmensch nicht immer Recht behalten kann. In der zweiten Story aus seiner Feder füllt Thomas le Blanc wie Tanja Kinkel eine „Lücke“ in Karl Mays „Durch die Wüste“ Epos. Nach der ersten Begegnung zwischen Kara Ben Nemsi und Sir David Lindsey gibt es noch die Anekdote „Sir David im Harem“, in welcher der Britte aus Gastfreundschaft zum örtlichen Sultan seinen Mann stehen muss. Pointierte Dialoge runden diese kleine humorvolle Episode ab.
Alexander Röder ist mit den beiden längsten und besten Beiträgen in dieser Anthologie vertreten. Schon mit seinen inzwischen sechs Romanen zum magischen Orient hat der in Wetzlar lebende Autor bewiesen, das er die Balance zwischen einer überzeugenden Karl May Hommage und den Mythen aus „1001 Nacht“ beherrscht. Seine Magie ist effektiv, aber unaufdringlich. „Das schwarze Herz des Erlen Kagan“ beginnt mit einer dramatischen Actionszene. Kara Ben Nemsi und Hadschif Halef Omar werden in Afghanistan überfallen, ihr Mittelsmann mit einem Zahn aus einer Flinte erschossen. Ein Beweis, das es sich um einen Verräter handelt. Kara Ben Nemsi hat auf Bitte Sir David Lindseys einen Auftrag für den britischen Geheimdienst übernommen. Er soll zum Drogenlord Erlen Kagan reisen. Anscheinend ist in seinem Gefolge ein „lebender Toter“, ein Mann aus dem Wilden Westen, der angeblich dort im Beisein von Old Shatterhand erschossen worden ist. Nur der Sachse kennt die Identität des Mannes. Im Laufe der Geschichte befreien sie eine junge Amerikanerin aus den Händen der Banditen, die sich aber über diese Heldentat nicht freut. Sie werden von Mitgliedern der Verbrecherorganisation angegriffen, die ihre Gesichter hinter Schweinsmasken verstecken und bei ihrer Ladung - bestehend aus Safran und Pistazien - finden sich Drogen.
Das Tempo der Geschichte ist hoch. Alle Figuren sind ausgesprochen dreidimensional gezeichnet und wenn Alexander Röder während des Epilogs die einzelnen Beziehungen der Nebenfiguren zueinander aufgedröselt und sich mehr als eine familiäre Rachegeschichte herauskristallisiert, dann hat der Leser das Gefühl, als wenn man ihnen als dunkle Variation Old Shatterhands / Kara Ben Nemis gerne weiter durch das von Alexander Röder ausgesprochen bedrohlich, exotisch und gleichzeitig verstörend faszinierende Afghanistan folgen möchte. Im Gegensatz zu seinen im magischen Orient spielenden Romanen ist die Handlung der Novelle deutlich stringenter, die einzelnen Szenen gut etabliert und anschließend auch zufriedenstellend aufgelöst. Die Beschreibungen wie die schwarzen Tränen des Erzschurken; der Tod durch Schweinezähne oder schließlich das Mitglied der Verbrecherorganisation, das dem Wahnsinn verfallen in Rohopium beißt, bleiben lange im Gedächtnis. Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sind zwar allgegenwärtig, aber stellenweise auch erstaunlich passive Beobachter dieser Jagd im Grunde nach einem Phantom. Die Nebenfiguren scheinen die bekannten Helden nicht nur zu erdrücken, sie verfolgen ihre Handlungen mit ironischen Bemerkungen und entlarven manchmal die Mechanismen, nach denen Karl May unzählige seiner Geschichten gestrickt hat.
Die zweite Novelle aus Alexander Röders Feder „Der Schatz der Lamia“ ist der Höhepunkt dieser Anthologie. Wie in seinen Romanen aus dem magischen Orient, aber auch seinen Beiträgen zu den Miniaturen der Phantastischen Bibliothek Wetzlars zeigt sich Alexander Röder als ein verspielter Autor, der die geradlinigen Handlungen – die Kinder eines ihrer Gastgeber werden entführt – mit verspielten Elementen und vor allem einer souveränen, manchmal ein wenig an Parodien erinnernden Personenführungen überzeugend ergänzt. Ausgangspunkt ist wieder Sir David Lindsey, der auf den Spuren Lord Byrons durch den vorderen Orient reisen möchte. Inspiriert durch eine Ballade Lord Byrons, der bei den Befreiungskriegen schließlich an einer Sepsis starb. Diese literarische Fehlinterpretation rückt abschließend ein aus dem Nichts kommendes Männchen zurecht, das in der Actionhandlung wie ein Fremdkörper wirkt, aber seinen belehrenden Zweck erfüllt.
Wie schon angedeutet, werden fünf Kinder aus dem Dorf entführt, das die drei Freunde beherbergen. Anscheinend handelt es sich um eine Bande, die regelmäßig Kinder entführt und gegen die Zahlung eines Lösegeldes wieder zurückbringt. Aber auch die Entführer und ihre perfide, von Alexander Röder minutiös beschriebene Vorgehensweise zwingen Kara Ben Nemsi, der Bande der Lamia den Gar auszumachen. Die Reise führt durch ein exotisches, fast fremdes Land voller Begegnungen wie den Märchen des Orients, ohne das die Grenze zur Phantasie überschritten wird. Wenn eine Gruppe von besonderen Entführern von Kindern durch heranwachsende Jugendliche unter der Führung von Kara Ben Nemsi gejagt wird, dann könnte der Plot die Grenze zur Farce überschreiten. Aber Alexander Röder hat sich in dieser Hinsicht sehr gut unter Kontrolle und zeigt auf, wie schnell die Menschen in dieser Zeit erwachsen werden mussten und wie schmal die Grenze zwischen einfachen, aber grundehrliche Leben und dem Ruhm des schnellen kleinen Geldes ist. Der Hintergrund der Geschichte ist sehr gut beschrieben worden und wie in seinen anderen Geschichten ist Alexander Röder ein Meister des übertragen gesprochenen Worts. Seine Dialoge sind pointiert, nicht selten auch doppeldeutig und Kara Ben Nemsi kann sich manchmal nur schwer zurückhalten, um seinen Freund Sir David Lindsey in seiner fast grenzenlosen und trotzdem naiven Dummheit streng zu maßregeln.
Auch in der letzten Geschichte dieser Anthologie aus der Feder Hubert Hugs geht es um entführte Kinder. „Das Kupferbergwerk in Kurdistan“ zeigt auf, in welche Richtung der Plot geht. Hadschi Halef Omar wird von einem Freund gerufen. Kara Ben Nemsi und Hadschi kommen zu spät. Der Freund ist ermordet worden, seine Frau verletzt und die beiden Söhne entführt. Eine Nachricht, überbracht von einer Taube, gibt einen vagen Hinweis. Bei der Verfolgung der Geraubten treffen die beiden Helden auf eine grausame Bande, die vermeintlich im Auftrag des Herrschers agiert, aber auch eine gigantische unterirdische Anlage, in welche – wie der Titel der Geschichte zu früh deutlich macht – mittels Gefangener Kupfer unter grausamen Bedingungen und der Knute der sadistischen Wächter gefördert wird.
Der Tonfall dieser Novelle ist deutlich dunkler als die anderen Geschichten. Hubert Hug beschreibt die grausamen Foltermethoden ausführlicher. Auch Hadschi droht ein feuriges Erwachen. Die Handlung folgt aber auch den bekannten Schemata. Die Helden versuchen sich einzuschleichen, scheitern, werden befreit und können schließlich den Aufstand anführen, der nur bedingt erfolgreich ist. Am Ende wird die dortige Korruption genauso entlarvt wie das In-die-eigene-Tasche-wirtschaften. In dieser Hinsicht birgt der Plot wenige Überraschungen und trotzdem liest sich die Geschichte vor allem auch wegen der gigantischen unterirdischen Anlage und den immer schneller ablaufenden Ereignissen sehr kurzweilig. Der Novelle fehlt die Exzentrik eines Alexander Röders, der aus den gleichen Plotelementen wahrscheinlich einen epochalen Kampf gegen das ultimative Böse gemacht hätte, aber Hubert Hug hat die wichtigen Protagonisten gut im Griff und macht aus Hadschi Halef Omar nicht die klassische Witzfigur. Kara Ben Nemsi ist zwar allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. Wie bei einigen anderen Geschichten versucht Hubert Hug die Gutmenschenmanier Kara Ben Nemsis nicht abschließend in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen. Er ist zwar nicht mit dem Vorgehen der Gefangenen einverstanden, er zeigt aber deutlich mehr Verständnis als Karl May es seinem Überhelden zugestanden hat. Ein grundsolider Abschluss dieser Anthologie.
„Tochter der Wüste“ atmet den modernisierten, aber sehr respektvollen Geist Karl Mays. Einige Handlungselemente kommen dem Leser aus den Originalgeschichten bekannt vor. Viele Variationsmöglichkeiten bieten sich auch nicht an. Aber die Texte sind gut in die Originale Karl Mays eingebaut, füllen teilweise handlungstechnische Lücken und interpretieren bekannte Schemata begleitet von modernen Dialogen und einer guten Zeichnunn nicht nur der Hauptfiguren, zusätzlich zur Erschaffung eigener sehr lebendiger Nebenprotagonisten im Karl May Kosmos auf eine sehr lesenswerte Art und Weise.
- Herausgeber : Karl-May-Verlag; 1. Edition (31. Juli 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 400 Seiten
- ISBN-10 : 3780205742
- ISBN-13 : 978-3780205742
- Abmessungen : 11.3 x 3.5 x 17.5 cm