Neil Clarke feiert verdientermaßen in seinem langen Vorwort ein Jubiläum: 200 Ausgaben von „Clarkesworld“ sind eine Leistung, die Beachtung verdient. Aber der Blick des Herausgebers geht auch in die Zukunft. In den nächsten Nummern sollen Geschichten aus einem freien Einreichungszeitfenster abgedruckt werden und das Projekt mit spanischen Muttersprachlern und ihrer Phantastik wird ebenfalls angeschoben.
Neben dem ausführlichen Vorwort finden sich wieder zwei Interviews, ein sekundär literarischer Artikel und insgesamt acht Kurzgeschichten, teilweise von langjährigen und prominenten Mitstreitern.
Carrie Sessarego geht auf die Verbindung zwischen Science Fiction und Horror ein. Die Autorin bezeichnet die beiden Genres als böse Zwillinge und die hier aufgeführten Beispiele geben ihr auch recht. Nicht jede Horrorgeschichte muss gleichzeitig Science Fiction Elemente enthalten und andersherum, aber wenn das Korsett eines Genres mit Bedacht in die Plots des anderen Genres übertragen wird, kommt nicht selten etwas Herausragendes und Interessantes heraus.
Arley Sorg spricht mit zwei jungen Autorinnen. Sowohl Premee Mohammed als auch Megan O`Keefe haben eine Reihe von Kurzgeschichten sowie die ersten Romane veröffentlicht. Die beiden noch jungen Frauen sprechen über ihre Vorlieben im Genre; die Schwierigkeiten, die entsprechenden Verlage zu finden und schließlich auch die richtige Balance zwischen einem Beruf, der Geld einbringt und der Leidenschaft für das Schreiben.
Naomi Kritzer eröffnet mit ihrer Kurzgeschichte „Better Living Through Algorithms“ die Jubiläumsnummer. Eine neue App, natürlich von künstlicher Intelligenz gesteuert, gibt den „Mitgliedern“ konkrete Ratschläge über ihre Smartphones. Eine Journalistin macht sich auf die Suche nach dem Ursprung dieser User Gruppe. Naomi Kritzer bewegt sich am Rande der Satire, vielleicht auch der Farce. Zu Beginn extrapoliert sie die Warnungen der Apps und macht die Benutzer in ihrer jeweiligen Hilflosigkeit fast lächerlich. Gleichzeitig warnt sie davor, zu naiv und zu sehr der Technik zu vertrauen. Die Autorin zeigt auf, was die App mehr und mehr indirekten Einfluss gewinnt, ohne das es notwendigerweise mehr User sein müssen. Pointierte Dialoge und vor allem lebendige, dreidimensionale und mit viel Liebe zum Detail gezeichnete Protagonisten heben die Kurzgeschichte aus den anderen Texten doppelt positiv heraus.
Suzanne Palmer hat mit ihren beiden letzten Geschichten um einen emotionalen Roboter an Bord eines Raumschiffes den HUGO gewonnen. Hier liegt eine weitere Story aus dem Universum vor. Alle Texte lassen sich unabhängig voneinander lesen. „To Sail Beyond the Botnet“ wird das intelligente Raumschiff mit dem Roboter an Bord von Aliens angegriffen, welche künstliche Intelligenzen hassen und auslöschen wollen. Der Roboter wird auf einer Rettungsmission ins All geschossen, um andere Außerirdische an Bord eines weiteren in der Nähe befindlichen Raumschiffs um Hilfe zu bitten. Auch wenn die Zusammenfassung der Handlung an eine Aneinanderreihung von Klischees erinnert, ist Suzanne Palmer eine innovative Autorin, die mit Augenzwinkern, Humor und vor allem auch interessanten Wendungen ihre Storys erzählt. Immer wieder verweist der Roboter als Erzähler auf Ereignisse aus den ersten beiden Geschichten. So baut die Autorin ihr Universum weiter aus, auch wenn manche Leser die ersten beiden Storys nicht kennen. Aber die Vertrautheit mit den Protagonisten und ihrem Universum lässt den Hintergrund der Novelle lebendiger erscheinen, auch wenn das rasante Erzähltempo und einige überraschende Wendungen – absichtlich gegen die Erwartungshaltung der Leser platziert – schon ausreichend sind, um wirklich sehr gut unterhalten zu werden.
Bei Parker Raglands “Sensation and Sensibility” geht es nicht um einen Roboter, sondern um zwei, die in einem Restaurant Tee und Gebäck bestellen. Beide haben keine Geschmacksnerven. Der Titel und die Vorgehensweise der Roboter ist eine Anspielung auf Jane Austen und so präsentiert sich die Story eher als eine Vignette denn eine wirklich überzeugende Kurzgeschichte.
An Haos “Action at a Distance” - die einzige Übersetzung aus dem Chinesischen in dieser “Clarkesworld” - spielt auf einem seltsamen Asteroiden mit einer noch seltsameren Oberfläche. Zwei Explorer sind bislang verschwunden bzw. getötet worden. Der dritte Explorer hat sein Sehspektrum künstlich erweitert, um die kristallinen Strukturen dieses Asteroiden besser betrachten zu können. Die Ausgangsbasis mit dieser seltsamen Welt ist faszinierend und die Autorin beschreibt sie auch sehr spannend. Die Atmosphäre ist überzeugend, der Leser bewegt sich ausschließlich auf Augenhöhe des Protagonisten. Gegen Ende überspannt An Hao allerdings den Bogen. Die fremde Entität übersteigt das Bewusstsein des Explorers und damit auch des Lesers. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Autor auf jeglichen Versuch der Beschreibung verzichten und den Text so offen enden lassen sollte. In dieser Hinsicht macht es sich An Hao trotz eines sehr guten Beginns zu einfach.
Harry Turtledove kehrt mit “Through the Roof of the World” zum wiederholten Male zu “Clarkesworld” zurück. Auf einer Wasserwelt leben an Krebse erinnernde fremde Wesen. Ein Objekt durchbricht eine für die Bewohner undurchdringliche Barriere. Auch wenn der Leser den Plotverlauf erahnen kann und der Autor wenige in sich originäre Überraschungen präsentiert, überzeugt die Geschichte durch eine wirklich exotische Flora und Fauna sowie die wiederholt in dieser “Clarkesworld” wirklich gute Zeichnung der Figuren.
Rich Larsons “LOL, said the Scorpion” trägt eine Hommage an Harlan Ellison im Titel. Die Geschichte spielt auf einer durch Pandemien und klimatische Veränderungen verwüsteten Erde. Die Reichen machen weiterhin Urlaub an exotischen Plätzen, nur tragen sie inzwischen symbiotische Körperanzüge, welche sie vor den Gefahren schützen. Als Allegorie auf den grenzenlosen und rücksichtslosen Tourismus reißt die Geschichte zu viele wichtige Fragen nur an. Hier arbeitet Rich Larson teilweise mit grotesk übersteigerten Klischees, deren Wahrheitsgehalt nicht unbedingt repräsentativ ist. Aber der kritische Kerngedanke verschwindet zu schnell unter der leider eher stereotypen Handlung.
Megan Chees “The Giants Among Us” ist eine Anspielung auf James Ballards “The Drowned Giant”, die wiederum eine Anspielung auf Swifts Lilliput Geschichten ist. Dazu mischt die Autoren einzelne Aspekte von Franz Kafkas paranoiden Weltansichten, wobei die Autorin den Plot auf einen anderen Planeten verlagert und mittels der auftretenden Aliens im Angesichts des Riesen mehr inhaltliche Möglichkeiten hat. Diese werden aber nur bedingt genutzt, so dass der Text eher wie ein Stillleben als eine wirklich überzeugende Kurzgeschichte wirkt.
In einer fernen Zukunft spielt “The Fall” bei Jordan Chase-Young. Die Menschheit hat den Mond erreicht, anschließend brach die Zivilisation zusammen und gefühlt nach Äonen kehren die Menschen auf den Mond zurück. Eine Forscherin untersucht die Reste der ersten Expeditionen und ihre Kuppel Städte auf dem Mond. Wissenschaftlich ist die Geschichte absurd, die Flora und Fauna kann sich nicht in einem luftleeren Raum derartig entwickeln, zumal sie erstens von der Erde stammt und zweitens die Technik innerhalb der Station sehr schnell zusammengebrochen ist. Die Handlung schreitet zu langsam voran und am Ende kann der Autor seinen Plot auch nicht zufriedenstellend abschließen, so dass fast alle Fragen offenbleiben. Als Horrorgeschichte wirken die einzelnen Versatzstücke aufgesetzt, wie angesprochen funktioniert die Science Fiction nicht wirklich und der Leser bleibt eher verwirrt als zufriedengestellt zurück. Hier wird zu viel Potential leider verschenkt.
“Clarkesworld” 200 ist trotzdem die bislang beste Ausgabe des Jahres 2023. Das Spektrum der Themen ist breiter, die Umsetzung teilweise ausgesprochen originell. Generell überzeugen die Geschichten durch eine Reihe guter Ideen, aber vor allem gut gezeichneter Charakter. Eine Jubiläumsausgabe, welche Stammleser zufriedenstellt, aber vielleicht auch neue und notwendige Leser anzieht.