Die magische Bibliothek

Michael Siefener

Michael Siefeners Roman „Die magische Bibliothek“ erschien ursprünglich im Taschenbuchformat in der Edition Medusenblatt. Mit einem wunderschönen wie passenden Titelbild von Timo Kümmel hat der Atlantis Verlag den Roman neu aufgelegt.

 Der Autor erwartet nicht, aber zumindest erhofft er es sich, das der Leser sich so gut in der Weird Fiction auskennt wie sein Protagonist – der Rechtsanwalt und Büchernarr Albert Moll. Gleich zu Beginn hat Michael Siefener ein sichtliches Vergnügen, Bam Stokers „Dracula“ ausgiebig zu zitieren. Einer der wichtigsten Klienten der gemeinsam mit seinem Bruder betriebenen Rechtsanwaltskanzlei – zu gleichen Teilen vom Vater vererbt – ist der im Rollstuhl sitzende Grad Rocherich von Blankenstein. Er möchte sein Testament aufsetzen und ausgerechnet der Stubenhocker Albert Moll seinen Bruder in dieser für die Kanzlei sehr wichtigen Angelegenheit vertreten. Auf der Zugfahrt liest Albert Moll wie angesprochen in Bram Stokers „Dracula“ und beschwört in seiner Phantasie Ähnlichkeiten zwischen dem Vampirroman und der Reise in das am Fuß der Burg liegende seltsame Örtchen herauf.

 Die ersten Tage geht die Arbeit am Testament flott voran. Albert Moll darf sich sogar in der Bibliothek des Grafen aufhalten, auch wenn diese nur wenige phantastische Werk enthält. In der einzigen Schenke des Ortes trifft er auf die Tochter des Wirts, Ilse, die ihm schöne Augen macht. Später informiert ihn eine zweite nicht unattraktive Frau Sabine, das es in der Burg eine Art magische Bibliothek geben soll. Als Antiquarin hat sie einen entsprechenden Hinweise bekommen. Die vielleicht dreihundert oder vierhundert Bücher sollen Millionen wert sein.

 Anfangs will Albert Moll als Muster der Rechenschaft nichts von einem Einbruch oder Diebstahl wissen. Aber der Drang, nicht nur Sabine einen Gefallen zu tun, sondern diese Raritäten selbst einmal in den Händen zu halten, wird immer stärker. Als der Graf mit seinem Diener und den Gespielinnen noch einige Tage weg fährt und ihm die Schlüssel zur Burg überlässt, fallen die letzten moralischen Hemmungen, nachdem Albert Moll in den Tagen davor schon mehrfach auf die Probe gestellt worden ist. Von beiden Frauen, welche den emotional einsamen Mann vollkommen überfördern.

 Beginnend mit der Anspielung auf „Dracula“ ist „Die magische Bibliothek“ nicht nur ein geradliniger und spannender Gruselschicken in bester klassischer Manier, sondern eine Einladung, die angesprochenen Bücher noch einmal zu lesen. Albert Moll ist sich angesichts der seltsamen Begegnungen, der Alpträume und Visionen sicher, das er viele Szenen aus den von ihm geliebten Bücher kennt oder zumindest etwas Ähnliches gelesen hat. Albert Moll weiß auch, was den Protagonisten eines Thomas Ligottis eines Algernon Blackwoods oder eines H.P. Lovecrafts passiert. Dieses potentielle Wissen bürgt natürlich inhaltlich für Michael Siefener auch ein gewisses Risiko. Wann überschreiten die Handlungen seines Protagonisten die Grenze zur Glaubwürdigkeit, da Albert Moll als Rechtsanwalt kein dummer Mensche ist. Er ist einfach gestrickt, aber rechtschaffen. Er ist langweilig, aber in seiner Arbeit auch sehr genau. Vor allem öffnen  ihm die phantastischen Geschichten die nicht einmal magische Tür, um aus seiner geordneten wie langweiligen Existenz zu entkommen. Diese Liebe zu Büchern hat begonnen, als sein Vater, sein Bruder und er die Mutter in einer psychiatrischen Einrichtung immer besuchen musste. In den Auslagen einer Buchhandlung lag der erste Schlüssel zur Flucht in anderen Welten: ein Sammlung mit klassischen Geistergeschichten.

 Die Liebe zur Literatur erdrückt bei Albert Moll schließlich das Risiko. Von Sabine immer wieder angestachelt wird er schließlich „kriminell“ und beginnt hinter den Regalen des großen Zimmers voller Bücher nach der magischen Bibliothek zu suchen.

 Albert Moll steht zwischen Pflicht und Versuchung. Und hier liegt auch die Stärke des Romans. Immer wieder hat Albert Moll groteske, unerklärliche Begegnungen. Das ganze Dorf  könnte aus einer der Weid Fiction Geschichten stammen. Natürlich fahren die Züge auch nicht vom Bahnsteig gleich um die Ecke ab. Er müsste entweder sich fahren lassen, aber der Diener des Grafen hat ja den Bentley mitgenommen. Oder er müsste Sabine bitten, die aber von ihm etwas Anderes möchte. Oder er könnte vielleicht zu Fuß gehen, aber mit seinem Gepäck bestehend unter anderem auch einigen der von ihm geliebten Horrorbücher eine sehr beschwerliche Aufgabe. Als ist Albert Moll im Grunde dazu verdammt, dazu zu bleiben und dem Schicksal trotzig entgegenzusehen.

 Außerdem ist der Preis zu „heiß“ für den Büchernarr. Michael Siefener macht zwar deutlich, dass Abert Moll nur die Klassiker der Pulpära und ihre treue Epigonen mag. Keinen Splatter. In der geheimnisvollen Bibliothek sollen vor allem schwarzmagische Bücher stehen. Dieser Köder ist verführerisch, aber er reicht noch nicht.

 Viel interessanter sind die Frauen. Da wären zum einen Ilse, die anscheinend gerne die männlichen Gäste der kleinen Kneipe unterhält. Ihr Vater ist ein herrischer Sadist, so dass sie sich die Zuneigung wo anders sucht. Schon mit dieser Begegnung ist Albert Moll vollkommen überfordert. Noch ein anderes Kaliber ist Sabine, Büchernärrin und Antiquarin. Der feuchte Traum seiner Nächte nach der Lektüre eines guten Buches und vor dem nächsten Sonnenaufgang und damit der Rückkehr ins langweilige Berufsleben. Sie zieht ihn an. Er scheint ihr auch nicht egal zu sein, wobei ihre Signale eher ambivalent sind.

 Die perfekte Falle, wie Michael Siefener in seinem eher an den Film Noir erinnernden Epilog, ausführlich darstellen wird. Vielleicht kommt diese finale eingeschränkte Wendung aus dem Nichts heraus und versucht zu vieles zu erklären, was in guten Horrorgeschichten unausgesprochen bleibt. Aber im Gegensatz zu Schriftstellern wie Lovecraft, welche das offene, Unheil verkündende Ende zu einer wahren Kür gemacht haben, möchte Michael Siefener mit der Geschichte abschließen. Und wenn es auf eine tragische Art und Weise ist.

 Zwischen dem Überschreiten der unsichtbaren Grenze zwischen Recht/ Ordnung und Kriminalität präsentiert der Autor einen Alptraum in bester Weird Fiction Manier. Ganz bewusst schränkt der Autor die Perspektive von Beginn an ein. Auch wenn er auf einen Ich- Erzähler verzichtet, wird der ganze Plot ausschließlich aus Albert Molls Perspektive erzählt. Weitere Informationen erfährt der Protagonist zusammen mit dem Leser aus den gut geschrieben Dialogen. Was anfänglich zwar alptraumhaft, aber irgendwie auch „logisch“ erscheint, wird aus einer anderen, später ausführlich erläuterten Perspektive förmlich demontiert und entdämonisiert. Wo die Wahrheit ist, beurteilt der Autor nicht. Diese Entscheidung steht neben Albert Moll nur dem Leser zu. Diese Ambivalenz macht den Reiz der Geschichte aus.

 Vielleicht überspannt Michael Siefener nach dem atmosphärisch überzeugenden Auftakt mit einer ganzen Reihe von bizarren Charakteren den Spannungsbogen im Mittelteil ein wenig zu sehr. Thomas Ligotti grüßt in diesen Abschnitten eher als ein H. P. Lovecraft, der absichtlich mehr der Phantasie seiner Leser überlassen hat. Aber nach dem grotesken mittleren Abschnitt mit einigen unangenehmen, vielleicht zu provozierenden Szenen findet Michael Siefener in der Pulp Weird Fiction Tradition wieder in die Spur. Er zieht das Tempo dieser stringent erzählten Story noch einmal deutlich an und präsentiert ein fatalistisches, vielleicht ein wenig zu stark konstruiertes Ende. Aber das ist auch notwendig, damit der zugrunde liegende Plan funktionieren kann.

 Auch Michael Siefener hat früher als Rechtsanwalt gearbeitet, bevor er seine Liebe zur Weird Fiction und dem kreativen Schreiben auf die andere Seite gezogen hat. Aber „Die magische Bibliothek“ ist deswegen kein autobiographischer Roman.

 Mit dreidimensional gezeichneten Figuren, die nicht gewöhnlich sind und vielen kleinen , liebevoll gestalteten Hinweisen auf die Klassiker der Gruselliteratur ist „Die magische Bibliothek“ ein lesenswertes Kleinod, irgendwie aus der gegenwärtigen Ära des Horrors gefallen. Eine überzeugende Hommage, aber auch gleichzeitig konsequente Weiterentwicklung einer Reihe bekannter Werke. Dieser nächste Schritt ist auch notwendig, damit Albert Moll in seiner emotionalen Blindheit die Fallstricke genauso wenig bemerkt wie der Leser. Dieser nächste Schritt trägt aber auch zum Lesevergnügen bei, weil Michael Siefener von Beginn an mit dem Element der Entfremdung – seines Protagonisten – arbeitet und wie mehrfach erwähnt, keine Antworten liefert, sondern in einer Abfolge von Pyrrhussiegen immer weitere Fragen stellt. Oder um es genau zu schreiben, durch den überforderten wie verführten Albert Moll stellen lässt.

Die magische Bibliothek

  • Herausgeber ‏ : ‎ Atlantis Verlag (10. Januar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 190 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3864028124
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3864028120
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