„Mars Discovery“ gehört zwar nur Maschinenintelligenz Trilogie bestehend aus „Das Erwachen“ und „Die Eskalation“, es finden sich aber auch in Andreas Brandhorsts neuen Roman vage Hinweise auf den für sich alleinstehenden Roman „Das Schiff“. Aus den beiden erst genannten Romanen hat Andreas Brandhorst nicht nur den für das Genre nicht unbedingt neuen Konflikt zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz übernommen, auch Goliath spielt eine Rolle. Es ist nicht unbedingt notwendig, die eher wie moderne Science Thriller denn wie die hier vorliegende kosmopolitische Space Opera entwickelten Romane im Vorwege zu kennen, es rundet aber Andreas Brandhorsts ausgesprochen ambitioniertes Projekt ab.
Im ersten Drittel des Buches hat der Leser den Eindruck, als handele es sich um einen klassischen Marsroman, ein wenig mit Robert Zemeckis „Contact“ Verfilmung vermischt. Eleonora Delle Grazie verliert früh ihre Eltern. Sie kommen beim ersten bemannten Flug zum Mars ums Leben. Ihr Großvater stirbt wenige Jahr später an einem Gehirntumor. Sie will unbedingt zu den Sternen fliegen und wird schließlich die weibliche Kommandantin einer bunt gemischten Mannschaft, welche auch mittels Zehntausend eingefrorener Eizellen den Mars besiedeln soll. Allerdings gibt es noch eine zweite geheime Mission, die ursprünglich ihre Eltern übernehmen sollten. Auf dem Mars ist ein Objekt gefunden worden, das mit großer Geschwindigkeit sich in die Felsoberfläche des roten Planeten gebohrt hat. Sie soll das Objekt erforschen, bevor die Russen und Chinesen auf dem Planeten landen. Natürlich haben die Amerikaner – auch wenn sich Mitglieder anderer Nationen an Bord befinden, hat die NASA das Oberkommando – Angst vor dem Unbekannten und wollen für Notfälle eine Bombe mit einem der folgenden Versorgungsflüge mitschicken. Für alle Fälle.
Schon die Landung auf dem roten Planeten ist schwierig. Nur die inzwischen auf der Erde dominante Maschinenintelligenz, die ihre eigene Vernichtung durch eine Atombombenexplosion in letzter Sekunde auf der Erde verhindern konnte, hilft dem Team, auf dem Mars zu landen. Am Ende dieser Episode kommt es zu einer bewussten oder unbewussten Tragödie, welche die gesamte Marsexpedition in Frage stellt.
Dieser Abschnitt des Buches basiert auf gegenwärtiger Technik mit Ausnahme der ambivalent Maschinenintelligenz. Andreas Brandhorst macht deutlich, welche Faszination und gleichzeitig Gefahren der rote Planet auf den Menschen im Allgemeinen, aber auch diese lange Zeit gut zusammenarbeitende Crew ausübt. Obwohl nicht immer präsent steht Eleonara Delle Grazie immer im Mittelpunkt des Geschehens. Das Motto ihrer Mutter, das Leben ist zu kurz zum Trauern steht über allen ihren Entscheidungen, auch wenn sie am Ende ein derartig langes Leben haben wird, wie es Leser nur aus den Werken Olaf Stapledons, Stephen Baxters und vielleicht Clarkes „2001“ Tetralogie kennen. Es geht dann nicht mehr um menschliches Leben, sondern jegliche Art der Existenz.
Nach Abschluss des im Grunde nur einleitenden Marsabschnitts entwickelt Andreas Brandhorst den wichtigsten Aspekt der ersten beiden „Maschinenintelligenz“ Romane weiter. Der Konflikt zwischen dem Menschen mit seinem angeblichen freien Willen und der dominanten, sich nicht mehr nur als Helfer sehenden künstlichen Intelligenzen. Der britische Science Fiction Autor D.F. Jones mit seiner „Colossus“ Trilogie, aber auch Dean Koontz in seinem Frühwerk „Des Teufels Saat“ haben sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.
Bei Andreas Brandhorst kommt anschließend die kosmopolitische Variante hinzu. Grundsätzlich sind die Maschinenintelligenzen zwar dem Menschen intellektuell überlegen, aber die menschlichen Schwächen wie Lügen nehmen sie gerne positiv wahr und nutzen sie auch entsprechend rücksichtslos. Während die erste von der Maschinenintelligenz quasi im Handumdrehen initiierte Mission zu einem nahe gelegenen Sternensystem mit einem seltsamen Signal technisch nicht nachvollziehbar, aber zumindest argumentativ überzeugend vorgetragen wird, beginnt Andreas Brandhorst anschließend verschiedene Aspekte seiner bisherigen Space Operas direkt oder indirekt in die Handlung zu integrieren.
Da begegnet Eleonora auf ihren Reisen immer weiter raus nicht nur einem faszinierenden fremden Wesen, was abschließend in einer der überzeugsten emotionalen Szenen in einem Andreas Brandhorst Roman gipfelt. Dann gibt es eine Art Waffe, die entweder die Ultima Ratio darstellt oder eher eine Art Drohgebärde ist. Diese „Waffe“ ist vor dem Hintergrund eines ewigen Konfliktes zwischen „Mensch“ oder besser natürlich geborenem Leben und Maschinenintelligenz anzusehen. Dabei ist der Begriff „Mensch“ wirklich im übertragenen Sinne anzusehen. Brandhorst sieht in diesem Konflikt als Extrapolation der Skynet Variante aus den „Terminator“ Filmen ein grundsätzliches Problem, dessen Lösungsschlüssel auch mittels einer Reihe von Botschaften aus Eleonoras gestärkten Schultern abgelegt wird.
E ist erstaunlich und lesenswert, wie weit Andreas Brandhorst den Bogen in „Mars Discovery“ spannt. Vergleichbar Arthur C. Clarke und inzwischen weniger Stephen Baxter schaut der deutsche Science Fiction weit in eine ferne Zukunft, erschafft in einzelnen Kapiteln nicht nur Welten, sondern lässt seine Protagonistin schließlich sogar kurzzeitig auf die Erde zurückkommen, wo der Autor die existentielle Frage diskutiert, ob Fortführung der Rasse oder Unsterblichkeit wichtiger ist. Und das, nachdem sich seine Protagonistin basierend auf einer Lüge damit auseinandersetzen musste, ob der Tod der Anfang eines neuen, eines anderen Lebens ist.
Wirklichkeit – ausgehend von der realistisch beschriebenen Marsexpedition- gerät immer mehr in den Hintergrund und weicht einem wie angesprochen ambivalenten Szenario, an dessen Ende im Grunde auch irgendwie der Anfang des Buches steht. Der Tod wird nicht nur durch Eleonoras Verwandlung zu einem neuen Menschen zu etwas Relativen. Entfernungen im All schmelzen angesichts der zu entdeckenden Wunder mehr und mehr zusammen. Ohne das Tempo zu steigern, sondern routiniert entschlossen fügt Andreas Brandhorst dem auf den ersten Blick fast antiquiert und klischeehaft wirkenden Konflikt zwischen dem reinen Leben und den Maschinenintelligenzen die Idee eines parallelen Universums inklusiv Zugängen durch schwarze Löcher oder den Aspekt der quasi Quantenzeitreise – entwickelt und umgesetzt von einem der letzten forschenden Menschen auf der Erde der fernen Zukunft – hinzu. Alles Themen, die manche Autoren in ganzen Trilogien auswalzen.
Vor allem weil Andreas Brandhorst dem technischen Fortschritt im Gegensatz zu vielen anderen seiner Bücher eine humanistische Komponente gibt. Die sich selbst optimierenden Maschinenintelligenzen können sich nicht gänzlich von ihren „Eltern“ lösen. Auch wenn Eleonora als Botschafterin zweier Welten körperlich optimiert weiterhin mehr Mensch als Maschine ist, hat sie abschließend trotz der Lügen auch Verständnis für die globalen oder besser universalen Ziele der Maschinenintelligenzen, von denen aktiv nur Goliath eine relevante Rolle spielt.
Andreas Brandhorst arbeitet sehr stark mit Symbolen. Eleonora kommt wie Jesus von den Toten zurück, um Frieden ins Universum zu bringen. Dabei vergleicht weder der Autor noch die Protagonistin direkt mit Gottes Sohn. Das außerirdische Wesen erinnert an einen Engel und möchte nur ein einziges Mal frei fliegen. Am Ende scheint Eleonora mit Begleitung die natürliche Grenze zu überschreiten und auf ihrer Mission, der Galaxis Frieden zu bringen, in eine andere, höhere Dimension einzudringen und vielleicht sogar die bekannte Existenzebene verlassen. Nicht umsonst endet der Roman auf einer philosophischen Note.
Trotz des weiten Bogens, den der Autor inhaltlich wie zeitlich in dieser Geschichte schlägt und unabhängig von der fast erschlagenden, aber auch manchmal eher in Form einer Chronologie als einer Geschichte abgehandelten Vielzahl von Ideen ist „Mars Discovery“ im Bereich der reinen Science Fiction Andreas Brandhorsts bester Roman seit vielen Jahren. Die futuristischen Thriller haben dem Autor eine erstaunliche Plotdisziplin gelehrt und waren alle zugänglicher als seine manchmal auf alten Ideen basierenden Elaborate der letzten Jahren. Bei „Mars Discovery“ hat der Autor seinen Ideenreichtum und seine grundlegende Plotdisziplin zu einem interessanten Abschluss der Maschinenintelligenz Trilogie verbunden, der unabhängig von den ersten beiden Romanen gelesen werden kann, aber nicht unbedingt sollte.
- Herausgeber : Piper; 1. Edition (4. Januar 2021)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 464 Seiten
- ISBN-10 : 3492705138
- ISBN-13 : 978-3492705134