Die Themenausgabe „Neue Wege zur Utopie“ des Magazins Nova ist der Beweis, dass mit dem Verlagswechsel zu „p.machinery“ hin auch Flexibilität hinzugekommen ist. Noch nicht, was den Erscheinungsrhythmus angeht, aber den Umfang. Auch wenn – wie die Herausgeber im Vorwort klarstellen – eine Themenausgabe zu der Idee einer Utopie, also etwas im Grunde etwas Positivem eine besondere Herausforderung für die Autoren darstellte und es doppelt so lange wie bei einer unspezifischen Ausgabe dauerte, um ausreichendes Material vorliegt, konnte neben den Farbseiten auch der sekundärliterarische Inhalt bei einer flexibleren Preisgestaltung erweitert werden.
Insgesamt zehn Geschichten finden sich in dieser Ausgabe. Barbara Ostrop beginnt in „Das Kontingent“ in der Tradition des Sprichwortes „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung“. Der Protagonist ist für sein maßloses Verhalten in einer trotzdem regulierten Konsumgesellschaft „bestraft“ worden, ein sozialeres Verhalten inklusiv einer Schonung der Resourcen könnte ihm die Tür zurück nicht unbedingt in seine Wohnung, aber in ein gesellschaftliches Leben ermöglichen. Der Inhalt wirkt ein wenig belehrend mit einem unsympathischen Protagonisten, so dass kein echter Spannungsbogen aufgebaut werden kann.
Die Maschinenintelligenz als letzte Rettung vor der Selbstvernichtung und zu einer „besseren“ Gesellschaft steht entweder im Mittelpunkt einzelner Geschichten oder agiert im Hintergrund. Marcus Hammerschmidt „PLKL“ zeigt die Erweckung einer Schläferin in einer Welt, in welcher immer mehr absichtlich gestreute falsche Nachrichten oder verwirrende Gerüchte ausgestreut werden. Mit einem exzentrischen Team oberflächlich ausgebildeter Hobbyagenten soll sie die Spur aufnehmen. Grundsätzlich macht die Pointe keinen Sinn, da eine Manipulation der Menschen auf eine subtilere Art und Weise vorgenommen werden könnte. Zieht man den Text von der Pointe betrachtet auf, dann wäre eine alternative Idee in Form eines potentiellen Systemfehlers eine überzeugendere Erklärung. Der Aufbau der Story ist gut, aber gegen Ende scheint der Autor auch ein wenig den Glauben an die eigene Idee verloren zu haben. Tobias Reckermann geht in „Futur Drei“ den umgekehrten Weg. In einer regulierten und perfektionierten Gesellschaft machen die Außenseiter, bei denen der Protagonist einen Vortrag über Utopien halten soll, keinen wirtschaftlichen Sinn. Auf dem Weg dahin muss sich der Erzähler allerdings fast besessen mit der utopischen Literatur auseinandersetzen und wird dem perfekten System entrissen. Die Story wirkt lebhafter, vielleicht auch wenig geplant bizarr als humoristisch unterhaltsam mit einer Pointe, die vielen aktiven Fans auch ein wenig bekannt vorkommen mag.
Virtuelle Realitäten oder perfektionierte Kunstwelten bilden auch den neuen Weg zur Utopie. Frank Neugebauers „Entscheidung in Traumhaus 8“ nutzt eine eher klassische Ausgangsbasis. Auf der Oberfläche tobt ein Bürgerkrieg, unter der Erde können sich die Menschen in Traumhäuer auf Zeit oder für immer einmieten, in denen sie den Realitäten entfliehen. Der Direktor führt einen neuen Besucher durch die Anlage und die Eincheckmodalitäten. In der Mitte der Geschichte wandelt sich der Plot und Frank Neugebauer steuert seinen Text über die Hintergrundebene in eine andere, aber rückblickend auch bekannte Richtung. Durch die bekannten Versatzstücke kann „Entscheidung in Traumhaus 8“ nicht unbedingt überzeugen. „Erwache“ von Frank Hebben geht in eine spielerisch andere Richtung. Hier stört aber, dass die Struktur so sehr auf sich aufmerksam macht, das sich weder der Plot noch die Charaktere wirklich entfalten können. Intellektuell versucht der Autor seine Leser zu provozieren, während Frank Neugebauer zum Beispiel eher einen stringenten Plot entwickelt.
Martin Mächlers „Der Nautilus- Faktor“ ist auf der einen Seite inhaltlich der am meisten ambitionierte Text dieser Anthologie, der sich auf der anderen negativen Seite nicht genug Zeit lässt, um die Geschichte zu erzählen. In Novellenform würde die Story besser überzeugen. Kurz vor dem Erreichen des Ziels verschwindet plötzlich die als Kolonialplanet ausgesuchte Welt der Menschen. Anscheinend gibt es Außerirdische, die mit Planeten handeln. Das Raumschiff der Menschen macht sich auf den Weg zum Handelsplatz, um den Planeten wieder zurückzuholen. Die Technik ist eher ambivalent entwickelt. Auf der einen Seite gibt es Völker, die ganze Planeten inklusiv eines Schutzschirms versetzen können, auf der anderen Seite ist der Terraformingprozess umständlich. Das Raumschiff der Menschen kann locker der Spur der Fremden folgen, dann reicht der Treibstoff inklusiv der entsprechenden Koordination nicht, um einen anderen Planeten zu finden. Am Ende wird ein pazifistischer Kompromiss geschlossen, in dem alle Versatzstücke wie bei einem Puzzle zusammenpassen. Der Autor öffnet zu viel dem konstruierten Zufall Tür und Tor, als das der Text in dieser komprimierten Form wirklich nachhaltig überzeugen kann, auch wenn man den Hut davor ziehen muss, einen derartig weiten Bogen zu spannen.
„Kaputt in Liliput“ von Thomas A. Sieber ist der Vertreter des skurrilen Humors. Ein Raumfahrer stürzt mit seinem Raumschiff natürlich besoffen ausgerechnet auf der Erde und in Liliput ab. Dieser Absturz hat Folgen, wobei am Ende der Autor in einem schwachen, aber für viele phantastische Geschichte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg typischen Ende Schutz sucht. Bis dahin ist diese groteske Satire provozierend und unterhaltend zu gleich, wobei Sieber als einer der wenigen Autoren über die schriftstellerische Strenge schlägt und eben kein perfektes Ambiente erschaffen möchte. Aus Sicht des Protagonisten lebt dieser schon in seiner eigenen Wohlfühlkugel und jeder Versuch, diese zu verlassen, kann nur in Katastrophen enden.
Zwei längere Texte befinden sich unter den insgesamt zehn Geschichten. Dirk Alts „Die Eismaschine“ entblättert die Irrealität seiner Vision erst nach und nach. Ein gottgleicher Charakter, dem eine künstliche Intelligenz jeden Tag aufs Neue Gespielinnen für seine sexuelle Gelüste zuführt. Als eines dieser Geschöpfe aus der Reihe tanzt und sich ihm sogar verweigert, eifersüchtig erscheint und er sie länger als eine Spielperiode bei sich behalten möchte, beginnt diese irreale wie perfekte Welt zu bröckeln. In einem fast absolutistischen Stil mit provokanten Bildern entführt Dirk Alt seine Leser in diese Welt. Die entweder absichtlich schematisch eindimensionalen künstlichen weiblichen Figuren oder der Übergott sind überzeichnet und wirken wie Chiffren, damit Dirk Alt keine Widersprüche aufkommen lässt. Die intellektuelle Wandlung inklusiv des tragischen Endes seiner Hauptfigur ist konsequent angelegt, auch wenn manche Szene zu überlastet, zu theatralisch übertrieben erscheint.
Auch die zweite Geschichte kann nach einem sehr guten Auftakt nicht unbedingt überzeugen. Frank W. Haubolds „Die beste aller Welten“ verbindet mit Dirk Alts Geschichte, dass erfüllender und stetiger Sex anscheinend ein wichtiges Attribut für eine perfektere Utopie ist. Der Protagonist ist Schriftsteller und Musiker. Er entflieht den gesetzestechnisch strengen USA auf eine auf den ersten Blick rechtsfreie, wie ein Paradies erscheinende Insel. Vorher geben ihm aber die Behörden wie weiland Snake Plissken einen Motivationsschub mit. Der Auftakt ist wirklich gut, die Insel scheint zu perfekt zu sein und zumindest in der Theorie sollte der Protagonist unter Druck stehen, Ergebnisse auch wider Willen zu liefern. Diese ganzen Aspekte zerfallen in der Mitte der Geschichte, als Frank W. Haubold zumindest ohne Not ein Druckmittel von seiner Figur nimmt. Stoisch schreitet der Protagonist fast emotionslos voran. Auch ein zweiter Bruch hilft nicht unbedingt, die Spannung weiter zu forcieren. Stilistisch ist „Die beste aller Welten“ ein Höhepunkt dieser Ausgabe, aber grundsätzlich scheint Frank W. Haubold mit der Ausgangsidee nicht viel anfangen zu wollen und verschenkt leichtfertig das meiste Potential aller in dieser „Nova“ Ausgabe gesammelten Storys.
C. Stuart Hartwicks „Regenbögen für kommende Zeiten“ stellt die Idee einer Utopie, eines perfekten Lebensraums auf den Kopf. Einer der mechanischen Naturwächter findet eine junge Frau, die aus der Zitadelle als zynisch gesprochen Hort der Menschheit entkommen ist. In der Natur wird sie aufgrund der Umweltschäden nicht überleben können. Gegen alle Logik versucht sie es trotzdem. Die Geschichte ist dunkel, am Ende nachdenklich stimmend und vielschichtig zu gleich. Auch wenn C. Stuart Hartwick vielleicht keine neuen Argumente für den Erhalt der Umwelt anbietet, ist es die verzerrte Perspektive, welche die Kurzgeschichte aus der Masse heraushebt.
Es sind vor allem die teilweise farbigen Graphiken von Zeichnern wie Uli Bendick, Christian Günther, Detlef Klewer, Victoria Sack oder Michael Wittmann, welche die nicht immer zu hundert Prozent überzeugenden Geschichten trotzdem optisch sehr ansprechend begleiten. Die farbigen Innenseiten geben dem Magazin einen noch professionelleren Anstrich.
Im sekundärliterarischen Bereich finden sich sehr unterschiedliche Beiträge. Es gibt zwei Nachrufe auf Achim Mehnert und eine sehr persönliche Betrachtung zu Harlan Ellison. Der zweite Teil des Interviews mit Professor Lesch ist weiterhin interessant zu lesen. Es wird auch kurz auf die erste, sich mehr mit klassischen Science Fiction Themen auseinandersetzende Hälfte des Gesprächs eingegangen. Professor Lesch hat eine interessante Art und Weise, futuristische Sachverhalte auf das Pragmatische zu reduzieren. Allerdings schwingen auch eine Reihe von eher sozialistischen, aber nicht unbedingt sozialen Ideen Ansätzen mit, in denen sich der Autor eher auf Dogmen verfällt. Das die neuen Milliardäre nicht mehr wie früher investieren ist die absurdeste These dabei. Auch in der Vergangenheit gab es die parasitären Adligen, die ihren Reichtum horteten, während die wirklich breit aufgestellten Familien wie die Fugger oder von Wittgensteins vor allem durch Grundbesitz und dessen aktive Nutzung ihr Vermögen erhalten konnten. Zu den reichten Menschen der Welt gehören Unternehmer, ihr Vermögen besteht überwiegend auf Firmenanteilen in Form von Aktien, die nur indirekt über das Unternehmen, aber niemals mehr direkt durch den Verkauf und neue Investitionen aktiviert werden können. Lesch These würde implizieren, dass viele Konzerne nur noch ihren Wohlstand mehren anstatt aktiv nach anderen Lösungen zu suchen. Vor allem Amazon, Alphabet und selbst Microsoft agieren natürlich aus fragwürdigen Positionen heraus als Investoren und weniger als Bestandshalter. Hinsichtlich der modernen Geldschöpfung wie den Kryptowährungen hat der Gesprächspartner bedingt recht, allerdings handelte es sich wie vieles auch im eine kurzzeitige Blase, die der Markt inzwischen am Regulieren ist. Diese Übertreibungen in beide Richtungen sind ein wichtiger Bestandteil des wirtschaftlichen Kosmos, ohne den die Starken nicht überlebensfähig gemacht und die Schwächen aussortiert werden könnten. Zu den anderen Themen wie eine hohe Arbeitslosigkeit bei vor allem ungelehrten oder nicht lernbereiten jungen Menschen hat er dagegen keine Ideen. Aber alleine der Umfang des Gesprächs mit den verschiedenen Facetten macht das Interview über beide „Nova“ Ausgaben betrachtet zu einem diskussionswürdigen Höhepunkt.
Horst Illmer geht in seinem Essay „Wilhelm, der Nichteroberer“ mehr auf die Geschichte der positiven Utopien und das Leben der Übersetzerin Bertha von Suttner als auf das entsprechende Werk. Hier bleibt er neben einer kurzen Zusammenfassung erstaunlich oberflächlich und kann keine weiteren Querverweise anbieten. Der einleitende Teil liest sich manchmal eher wie eine Zusammenfassung verschiedener anderer Artikel, ohne das der Autor sich entscheidend positioniert.
Andreas Heyer macht es in dem einleitenden Essay „Alte Science Fiction, neue Utopie?“ deutlich besser, in dem er zum Einen von den bekannten Utopien und ihrer positiven wie negativen Ordnung von oben inklusiv der Einschränkung der Menschen in der Hoffnung auf eine wohlige positive Lebensatmosphäre den Bogen nicht nur in die Gegenwart mit einer kontinuierlichen Veränderung von „unten“ schlägt, sondern versucht, die alten Thesen auf die gegenwärtigen Entwicklungen zu übertragen. Konsequent, sehr stringent und immer wieder die eigenen „Behauptungen“ hinterfragend wäre es die perfekte Einleitung zu dieser Storysammlung gewesen und hätte gut an den Anfang gestellt werden können. Viele der vorher publizierten Geschichten scheinen diesen Ansatz in ihren Herzen zu tragen.
„Nova 27“ ist eine zwiespältige Themenausgabe. Unabhängig von der individuellen Qualität der Geschichten ist der äußere Eindruck, der Umfang und die Professionalität, in welcher sich das Magazin inzwischen ja schon nicht mehr seit Jahren, sondern Jahrzehnten präsentiert eine Anschaffung wert. Alleine um eine der wenigen Plattformen zu erhalten, auf welcher Kurzgeschichten in Anthologie bzw. Magazinform gesammelt, teilweise wie hier zu bestimmten Themen publiziert werden können. Die Veröffentlichungen einzelner Kurzgeschichten in diversen sekundärliterarischen Magazinen sind dafür kein Ersatz. Das Thema „Neue Wege zur Utopie“ hat einige sehr erfahrene Autoren eher gelähmt als das sie ihrer Phantasie die Sporen gegeben haben, so dass die „Nova 27“ eine immer noch lesenswerte, aber bei einigen Geschichten auch nicht gänzlich befriedigende Ausgabe darstellt. Bei einigen der Texten wünscht sich der Leser mehr Schärfe und vor allem auch Handlungstechnisch bis zum Ende mehr Konsequenz. Vor allem die beiden längeren Texte lassen hier im direkten Vergleich zu den Kurzgeschichten zu viele Flanken liegen.
- Broschiert: 290 Seiten
- Verlag: p.machinery; Auflage: 1 (1. März 2019)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3957651522
- ISBN-13: 978-3957651525