Christmasland

Joe Hill

Mit seinem dritten Roman ist Joe Hill, Stephen Kings Sohn, als Autor so gereift, dass er sich auf das Territorium des Meisters des Horrors begint. Schon seine ersten beiden längeren Arbeiten – von den interessanten Kurzgeschichten einmal abgesehen – haben ihn als interessanten und vielschichtigen Horrorautoren etabliert, aber mit „NOS4A2“ – der Originaltitel ist eine Anspielung auf den deutschen Horrorfilm „Nosferatu“ und passt besser als „Christmasland“, das allerdings das freiwillige wie unfreiwillige Ziel aller Reisen des Buches ist –  hat man das Gefühl, einen Stephen King Roman aus einem Paralleluniversum zu lesen. Das Buch lässt sich chronologisch wie inhaltlich irgendwo in die Zeit nach „Es“ einordnen. Während King mit „Sie“ oder „Das Monstrum“ auf Abwegen ging, wirkt „Christmasland“ wie eine würdige Fortsetzung, in welche Ideen aus „The Shining“ – die Fähigkeit, in eine andere Dimension geistig einzudringen, zu shinen - oder  „Christine“ – der Autofetischismus – oder „The girl who loved Tom Gordon“ – die Möglichkeit, das in einem Kind sich die Magie erhalten – genauso eingeflossen sind wie die „Dark Towers“ Serie mit dem Aspekt einer bizarren Parallelwelt, in die man über eine imaginäre Brücke eindringen kann und in der insbesondere Kindern schreckliche Dinge geschehen. Im Gegensatz allerdings zu Stephen King hat Joe Hill in der Gegenwart des Leser mit dem verrückten wie brutalen kindlichen wie perversen und vor allem verrückten „Gasmann“ eine Figur bereit, welche die Eltern der entführten Kinder zu Tode foltert. In diesen Passagen erinnert der vorliegende, umfangreiche Roman positiv wie provozierend wieder an Joe Hills ureigene erste Arbeiten.  

Mit Victoria „Vic“ McQueen und Charles Manx verfügt der Roman über zweite starke Kontrastpunkte. Joe Hill nimmt sich Zeit, diese Figuren nicht nur dreidimensional, sondern vor allem emotional überzeugend zu entwickeln. Das verwischen teilweise die Grenzen zwischen gut und böse. Ganz bewusst gibt er Victoria eine ambivalente Persönlichkeit, deren Fähigkeiten erst an die Oberfläche kommen, als sie quasi als selbst reinigende Kraft im Kampf gegen Drogen und Alkohol eine Comicreihe entwirft und damit dank der teilweise an Escher erinnernden Arbeiten einen durchschlagenden Erfolg hat. Es ist für Hill und King typisch, dass dieser monetäre Erfolg mit einem hohen emotionalen Preis zu bezahlen ist. Das Ende des Romans – so überraschend es auch in seinem Gesamttenor kommen mag – ist ein Tribut eines talentierten Autoren an eine hervorragend entwickelte Figur. Es gelingt ihm, im Leser eine spürbare Leere zu erzeugen und selten gab es einen überzeugenderen Pyrrhussieg. Victoria „Vic“ McQueen lernt der Leser als ein kleines Mädchen kennen. Sie kann gut Dinge finden. Verlorene Dinge, vergessene Sachen oder Unmöglichkeiten. Mit ihrem Raleigh Tuff Burner Fahrrad erkundet sie die Gegend und nutzt die „Shorter Way Bridge“. Erst später stellt sich heraus, dass diese Abkürzung in erster Linie in ihrer Phantasie existiert. Sie kann dadurch „unmögliche“ Distanzen in Sekunden zurücklegen. Vorsichtig arbeitet Joe Hill heraus, dass das Überqueren dieser Brücke auch seinen Preis hat. Victoria lernt, dass sie mit dieser Fähigkeit nicht alleine ist.

Charles Manx reist anscheinend seit Jahrzehnten wenn nicht Jahrhunderten durch die USA und entführt in seinem 1938 Rolls Royce Wraith Kinder. Immer wieder impliziert Joe Hill die Idee, dass Manx eine besondere Art von Vampir ist, der sich weniger an dem Blut seiner Opfer labt, sondern dank der frischen „Seelenenergie“ der Kind unsterblich ist. Er bringt seine Opfer ebenfalls in eine andere Dimension. An einen Ort namens Christmasland, an dem er aus den unschuldigen Kindern seelenlose und grausame Kreaturen macht. Sein Helfer dagegen vergewaltigt und ermordet die oft allein stehenden Eltern in einem abgeschiedenen Schuppen. Victoria begegnet Manx und kreuzt irgendwo zwischen dem Hier und dem dort seinen Weg. In letzter Sekunde kann sie sich befreien und die Polizei rufen. Manx wird dabei schwer verletzt und fällt ihn ein Koma. Alle diese Informationen präsentiert Joe Hill nach einem interessanten, im Grunde typischen King Prolog dem Leser im Vorbeigehen durch eine gut gestaltete Mischung aus Rückblenden und fortlaufender Handlung. Manx und Vic begegnen sich erst später wieder, als Manx tot erklärt aus der Leichenhalle entführt wird und plant, sich an Vic und ihrem inzwischen zwölf jährigen Jungen zu rächen.  

Wie Stephen King setzt sich Joe Hill allerdings auch an Hand gebrochener Charaktere mit dem Erwachsenwerden und den Verpflichtungen von Eltern auseinander. Es kann Zufall sein, aber vieles erinnert an die inzwischen bekannt gewordenen Lebensgeschichte Stephen Kings. Victorias Jugend ist nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen und der Begegnung mit Manx nicht einfach gewesen. Sie ist ein klassischer Außenseiter, der sich in Drogen und Alkohol flüchtet und mit dem Land hinter der Brücke im Grunde einen eigenen Schutzwall aufgebaut hat. Alleine die Liebes eine grundanständigen einfachen Arbeiters reicht nicht aus, um sie aus ihrer selbst zerstörenden Lethargie zu reißen. Erst mit dem künstlerischen Erfolg kann sie sich vom Alkohol und den Drogen in einem langen Prozess losreißen, um zu lernen, wie man als Mutter Verantwortung übernimmt. Der Leser wird aber auch den Hut vor Lou ziehen. Einem Bär von einem Mann, der Vic mit Geduld und Verständnis liebt. Der weiß, dass er seine Frau intellektuell unterlegen ist. Der ihr nur ein einfaches Leben bieten kann. Der lange Zeit ahnt, dass seine Frau eher in ihm einen Schutzwall denn einen Partner sieht. „Christmasland“ gewinnt erstaunliche in dem aufeinander zu bewegen zweier so unterschiedlicher Erwachsener und das Joe Hill diese den wichtigen Mittelteil des Romans dominierenden Passagen so emotional ohne Kitsch erzählt, zeigt, wie sehr er als Autor gereift ist. Während Lou aber nur auf die Ereignisse reagieren kann und zumindest über die schlagfertigsten Antworten der Polizei gegenüber verfügt, richtet sich Vic in doppelter Hinsicht auf. Aus zahllosen Fernsehfilmen übernommen ist die Idee, dass „man“ nur in die Vergangenheit zurückkehren kann, wenn man etwas selbst erschafft. Während ihr als kleines Mädchen das Fahrrad von ihrem Vater geschenkt worden ist, baut sie sich ein Motorrad  – anfänglich mit ihrem Mann, später alleine – der Marke Triumph (!) zusammen, das es ihr ermöglicht, wieder die Grenzen ins andere Land zu überqueren. Diese enge Verbindung wird von Joe Hill minutiös herausgearbeitet, geht aber im Verlauf der rasanten Handlung auch an wichtigen Stellen unter. 

Schwächer ist das Buch auf der Antagonistenebene strukturiert. Manx Helfershelfer Bing ist nicht nur debil, sondern ein sexuelles Sadist, aber auch ein williger Helfer. Joe Hill argumentiert ein wenig zwischen den Zeilen, dass dessen Naivität zwar ausgenutzt wird, Bing aber auch wegen seinem unterdurchschnittlichen Intellekt in einer modernen Gesellschaft viel leichter über die Stränge schlagen kann und will. Nicht selten nutzt Joe Hill Bing als eine Art MacGuffin, um unnötig sadistische Szene in die Handlung zu integrieren und sein Ende durch Vic wirkt eher wie ein Kompromiss gegenüber den Lesern, die Hill als harten Horrorautoren bislang kennen gelernt haben. Charles Manx dagegen ist ein deutlich vielschichtigerer Charakter. Auch wenn die Idee der Parallelwelt, der zweiten Handlungsebene nicht immer zufrieden stellend herausgearbeitet worden ist, sondern von Hill auf die Folgen reduziert wird, bleibt Manx ein interessanter, ambivalenter Charakter. Kein richtiger Vampir – manches erinnert an eine archaische Version der Weltraumvampire aus „Space Vampires“, nicht dem Film, sondern der literarischen Vorlage, welche die Essenz ihrer Opfer in sich aufgenommen haben -, kein richtiger Unsterblicher und doch eine Figur, die Hill pragmatisch einsetzt. Die Grenzen der Glaubwürdigkeit überschreitet der Autor ein wenig, wenn Manx nach Jahrzehnten im Koma quasi aus dem Nichts heraus stirbt, um entführt und wieder erweckt zu werden. Wovon hat sich sein Körper in der langen komatösen Zeit „ernährt“. Ansätze finden sich im Prolog, aber sie sind so rudimentär gestaltet, dass man eher an eine Verbindung von Telepathie und Empathie denkt als einen „klassischen“ oder auch nur modernen Vampir.    

Joe Hill nimmt erst auf den letzten Seiten das klassische klischeehafte amerikanische Weihnachten auf die Hörner. Vic und der Leser dringen auf der Suche nach dem entführten Sohn – die Entführung ist eine der Szenen, in denen Hill nicht nur Terror entfacht, sondern mit dem Tod des treuen Hundes insbesondere bei tierliebenden Lesern verschiedene Grenzen überschreitet und seine Anhänger emotional ein wenig zu sehr manipuliert, wenn nicht sogar brüskiert -  schließlich ist das „Christmasland“  ein. Wie Stephen King in seinem vorletzten Roman „Joyland“ schon aufgezeigt hat, geht es auch Joe Hill um die perfide Demontage eines Mythos. Das ewige Weihnachen, die kitschigen Lieder, die Verführung durch Geschenke und Süßigkeiten sind Mechanismen einer perfekten Industrie, welche den ursprünglichen Gedanken des Festes – Familiensinn und Nächstenliebe – auf den Kopf gestellt haben. So ist es keine Überraschung, das sie inzwischen moralisch gefestigte und entschlossene Mutter Vic diese Kulissen ins Wangen bringen kann. Für Manx dagegen stellt Weihnachten in einem perversen Sinne vordergründig kitschige Freude, aber viel mehr ewige Jugend dar. Vielleicht funktioniert der Brückenschlag zwischen dieser Idee und Manx Notwendigkeit, zum Überleben Kinder im übertragenen Sinne auszusaugen, nicht immer, aber zumindest hat Joe Hill in einem über den ganzen Roman zu wenig erkundeten „Land“ einen bizarren Fixpunkt erschaffen.  Der Höhepunkt des Bandes ist cineastisch ansprechend und spannend geschrieben, reicht aber nicht an die einfallsreichere Odyssee in der „Dark Towers“ Serie seines Vaters heran, mit welcher diese Abschnitte des Buches unwillkürlich verglichen werden müssen und können. Zumindest gelingt es Joe Hill allerdings, sein Buch im Vergleich zu einigen Arbeiten seines Vaters auf einer emotional ansprechenden, aber auch melancholischen Note zu beschließen, in der alle Rechnungen eingefordert und schließlich auch bezahlt werden. Etwas überambitioniert erscheint, dass Joe Hill zu stark an seine Fiction glaubt und insbesondere geistige Krankheiten – Depression, Schizophrenie und schließlich auch Bings brutal kindliche wie willige Naivität  - an die Idee von Magie außerhalb des bekannten „Universums“ koppelt. Anstatt diese beiden Strukturen unabhängig voneinander zu entwickeln, wirken die Querverbindungen teilweise unangenehm gewollt und fordern den Leser stark auf, über die Position des Autoren in dieser Hinsicht nachzudenken, was den Lesefluss an einigen ruhigeren Passagen deutlich stört.

Zusammengefasst ist „Christmasland“ bislang Joe Hills reifste Arbeit, die voller gut zu lesender Passagen ist, in denen sich Hill auf das Gebiet seines Vaters begeben und einen eigenen Horrorstil entwickelt hat, während das Buch in den emotionalen Abschnitten an die stärksten Arbeiten Kings – siehe wirklich „Es“ oder auch „The Shining“ – nicht nur erinnert, sondern sie angesichts der dreidimensionalen Charaktere wie Lou oder Vic übetrrifft. Trotz oder gerade wegen seines Umfangs hat Joe Hill sehr viel Raum, um seine vielschichtige und trotzdem mit einem hohen Tempo erzählte Handlung zu entwickeln. Unabhängig der angesprochen kleineren Schwächen ist ein vielschichtiger Horror Roman, der Schrecken mit sehr viel Menschlichkeit zu einer „Coming of Age“ Geschichte in mehrfacher Hinsicht verbindet. 

 

Originaltitel: NOS4A2
Originalverlag: William Morrow
Aus dem Englischen von Hannes Riffel, Sara Riffel

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 800 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, 20 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-453-26882-1

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