Doctor Sleep

Stephen King

Stephen Kings neuer Roman "Doctor Sleep" ist keine klassische Fortsetzung zu seinem mehrfach verfilmten Roman "Shining". Spräche man von einem internen Familienwettbewerb, dann stünde der Roman in Konkurrent mit Joe Hills "Chrismasland" um die originellste Vampirgeschichte. Dampft der Leser einen King Roman auf die grundlegende Handlung ein, dann verwundert es einen manchmal, das das Buch noch funktionieren kann: eine Familie von "Unsterblichen" jagt ein kleines Mädchen, um es im metamorphischen Sinne "auszusaugen". Ein nicht mehr ganz junger Mann hilft ihr. Es kommt zum Showdown und in diesem Fall siegt das Gute. Dabei hat man nicht einmal zu viel versprochen, denn King geht es seit den ersten Romanen an nicht um einen klassischen Gutböse Konflikt. Nicht selten stören die Handlungen bei der Entwicklung seiner Figuren, die unterschiedliche Reifeprozesse durchlaufen. Zu den größten Schwächen Stephen Kings gehört ohne Frage, das er manchmal handlungstechnisch nicht los lassen kann oder vor allem los lassen will. Das ist auch bei "Doctor Sleep" der Fall, dessen abrupte Ende - nachdem der Höhepunkt gut ausgesucht, wenn auch nicht überraschend gewählt worden ist - den Leser angesichts der langen, sehr guten Exposition verblüfft zurücklässt. Nicht, weil das Ende enttäuscht. In dieser Hinsicht ist der Autor konsequent, sondern weil es so schnell geht. 

Wie schon angesprochen ist "Doctor Sleep" im Gegensatz zum politisch schwierigen, aber das Lebensgefühl der sechziger Jahre verklärenden "Der Anschlag" und vor allem im Vergleich zum emotional deutlich zu seichten "Die Arena" endlich wieder ein Roman von der Qualität "Wahn", in dem King zum wiederholten positiven Male einen persönlichen Teil seiner Vergangenheit selbstkritisch abarbeitet. Als King "The Shining" geschrieben hat, war er nicht nur ein Alkoholiker, sondern vor allem auch drogensüchtig. Jack Torrance entstand zu einer Zeit aus der dunklen Phantasie seines Schöpfers, als dieser sich seiner Sucht noch nicht stellen wollte oder konnte. Vielleicht musste seine fiktive Figur deswegen in den Abgrund schauen und an sich selbst, seiner Schwäche und seinen Wutausbrüchen zerbrechen, bevor ihm der Schöpfer einen letzten Augenblick der Besinnung in der Buchvorlage, aber nicht der kubrickschen Verfilmung schenkte. Vielleicht sprang deswegen der Funke auf den mit der Gabe des "Sehens" verfluchten Sohn über, dessen Leben King in der ersten Hälfte des Romans düster, melancholisch, aber niemals kitschig beschreibt. Dan Torrance ist der Hölle des "Overlook" Hotels nur körperlich entkommen. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter ist schwer verletzt worden. Das Hotel zerstört. Die Dämonen kommen immer wieder. Anfänglich hilft ihm Dick Halloran, dessen Auftritt in "Doctor Sleep" viel zu kurz ist, zumindest den Erscheinungen einen geistigen Käfig zu bauen. Nicht nur durch seine Fähigkeit, sondern vor allem durch seine Erfahrungen isoliert wird Dan Torrance zu einem Außenseiter, zu einem Alkoholiker. Seinen persönlichen Boden erreicht er, als er neben einer ihm unbekannten Frau aufwacht. Sie haben miteinander geschlafen und anscheinend für 500,-- Dollar Kokain verkonsumiert. Dan Torrance ist pleite. In seiner Verzweiflung stiehlt er die letzten Dollar der Frau. Sie ist gleichzeitig aber auch Mutter eines Kleinkinds, das während die Mutter ihren Rausch ausschläft, nach den Drogen zu greifen sucht. Das verhindert Dan Torrance, bevor er mit schlechten Gewissen flieht. Anschließend schließt er sich den Anonymen Alkoholikern an und beginnt sein Leben erst mit kleinen Gelegenheitsjob und schließlich in einer Hospiz für alte Menschen zu ordnen. Stephen King geht zu sehr auf die harten Regeln der Anonymen Alkoholiker ein, als das es ein Zufall sein kann. Der Autor durchläuft seinen eigenen Prozess noch einmal und führt seinen Lesern vor Augen, dass es ein Entkommen von der Droge Alkohol geben kann. Auch wenn es für Dan Torrance ungleich schwerer ist. Dieses Aufbauen einer Ersatzfamilie, das sich im Roman in drei weiteren Konstellationen noch einmal wiederfindet. Wie Edgar Freemantle in "Wahn", der sich von einem schweren Unfall auf seiner Baustelle stellvertretend für Kings fast tödlichen Autounfall erholen muss, legt King seinem Protagonisten keine Steine in den Weg, er macht es ihm nicht einfach. Im Hospital - die zweite Ersatzfamilienkonstellation - kümmert sich Dan Torrance um sterbende alte Menschen und erleichtert ihnen mit seiner von King ambivalent eingesetzten "Shining" Gabe nicht selten den Übergang vom Leben ins Tod. Respektvoll wird Dan Torrance "Doctor Sleep" genannt. Im Vergleich zu den Sitzungen der anonymen Alkoholiker streift King dieses nicht selten einfache Sterben nur. Er zeigt, das Dan Torrance mit seinen Kollegen für diese allein gelassenen alten Menschen zu einer neuen Familie geworden ist, welche den Sterbenden den Respekt entgegen bringt, den die Verwandten nicht aufbringen wollen oder können. 

Die dritte "Familie" wirkt rückblickend zu stark konstruiert und mit einem Hinweis negiert der Autor überraschend die Faszination des "Shinings". Schon nach ihrer Geburt hat die junge Abra Visionen. Ihr Name erscheint früh in Torrances Tagebuch. Sie sagt - diese Passage gehört ebenfalls zu den Szenen, die den modernen amerikanischen Gegenwartsroman sklavisch traumatisch dominieren - die Flugnummern der Maschinen vom 11. September voraus. Ansonsten kann sie verlorene Gegenstände sehen oder die Gefühle anderer Menschen ahnen. Die heranwachsende Abra - der Roman umreißt im Fluge einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ! - lernt ihre Kräfte zu kontrollieren und vor allem zu verbergen. Sie ist deutlich mächtiger als Dan Torrance. Abra ist eine Figur nicht nur im hormonellen Wandel. Sie ist eine intelligente junge Frau mit einem teilweise morbiden Humor, aber auch einem sehr guten Auge für ihre Mitmenschen. Am ehesten könnte diese Figur ohne deren Fähigkeiten aus "Es" stammen. Nicht umsonst muss Abra einen ähnlichen Kampf gegen einen vergleichbar übernatürlichen Gegner ausfechten. Am Ende stellt sich heraus, dass nicht nur die gemeinsame Gabe Dan und Abra verbindet. Bis dahin lernt sie aber die vierte Familie kennen.

Die Mitglieder des "wahren Knoten" - die letzte "Familienkonstellation" des Buches - reist seit vielen Jahren durch die USA und lebt von der "Shining" Fähigkeiten. Sie ernähren sich wie Vampire von ihr. Dafür müssen sie ihre Opfer nicht nur aussaugen, sondern vor allem foltern. Abra verfolgt, wie die Mitglieder einen kleinen Jungen - der Baseball Junge, der in vielen King Romanen eine nicht unwichtige Nebenrolle spielt - entführen, foltern und schließlich töten. Durch einen Zufall werden sie auf Abra, die anscheinend Mächtigste von allen, aufmerksam. Hier liegt vielleicht die größte Stärke oder Schwäche des Romans. Die Sekte ist gefährlich, die Mitglieder verrückt. Aber wirklich bedrohlich im literarischen Sinne, die Phantasie der Leser bis zum extrem reizend sind sie nicht. Zu sehr gibt ihnen der Autor exzentrische Persönlichkeiten. Sie erinnern ein wenig an Bigelows Schöpfungen in "Near Dark" mit einem Schuss Anne Rice. Sie sehr wird das "Shining" auch dem Blut gegenüber gestellt, von dem die unsterblichen Kreaturen der meisten anderen Werke leben. Jedes Mitglied des Clans wird von King ausführlich und dreidimensional beschrieben, aber rückblickend sind sie viel zu leicht zu besiegen, zu griffig erscheinen sie. Dieses Gesicht geben funktioniert in den meisten King Romanen nicht. Das Verstecken, das Täuschen und schließlich die Entlarvung wie eben in "The Shining" und vor allem "Es" sind die Markenzeichen des Autoren. In dieser Hinsicht wirkt "Doctor Sleep" wie ein Rückfall in die frühen neunziger Jahre, in denen Stephen King mit "Tommyknockers" wieder Fuss zu fassen suchte. Kein Vergleich zu seiner interessantesten Geistergeschichten "Bag of Bones", die er vor zehn Jahren geschrieben hat. Und die eine Rückkehr Kings in das reine Horrorgenre darstellte. Und wie schon angesprochen werden die Mitglieder dieser Sekte zu leicht besiegt. Natürlich helfen die Masern, aber die beiden finalen Konfrontationen an zwei unterschiedlichen Schauplätzen mit den Mitgliedern des Packs enden zu abrupt, zu hektisch und wenig die gesamte Tiefe des Romans widerspiegelnd.     

"Doctor Sleep" ist ein geradliniger Horrorroman, aber zum wiederholten Male positiv eine fast epische Reise in das immer dunkle Herz Amerikas, das voller Hoffnung schlägt. Kings Protagonisten begegnen auf ihren inneren Reisen, die immer von äußerlicher Bewegung begleitet werden, unterschiedlichen Figuren, verschiedenen Menschen - dabei spielt es keine Rolle, ob sie "gut" oder "böse" sind, da diese Begriffe austauschbar erscheinen - , die länger im Gedächtnis bleiben als die eigentliche Handlung. Nach "Funland" ist es der zweite kurz hintereinander erschienene Roman, der sich mit der Besonderheit der amerikanischen Vergnügungsparks und ihren Kurzzeitangestellten - King verharrt zu kurz, um von einer fünften Familie zu sprechen, aber die Ansätze sind vorhanden - auseinandersetzt. Es sind diese Abschnitte, in denen Stephen King sehnsüchtig vielleicht auf die Erfahrungen zurückschaut, die er immer machen wollte, aber niemals konnte. Der Roman spielt in den Kleinstädten, den Trailerparks und schließlich auch vor den Supermärkten. In den Heimatorten der einfachen, ehrlichen Menschen, in welche die Monster eindringen, rauben und schließlich aus ihnen wieder verschwinden. Wie in vielen King Romanen sind sich die Helden selbst überlassen. Die Polizei wird ihnen die unglaublichen Geschichten nicht abkaufen. Es gibt keine Beweise und wenn welche wie die Leiche des Jungen mit seinem Baseballhandschuh gefunden werden, deuten die Spuren eher auf die Helden als die Täter. Also nehmen es Kings immer brüchige Figuren selbst in die Hand. Sie sorgen wieder für Ordnung in Gottes eigenem Garten und gesunden meistens zumindest an der Seele trotz vieler Spuren am Leib. In dieser Hinsicht ist "Doctor Sleep" ein typischer, ein klassischer Stephen King. Aber in der Reflektion eines Lebens, das trotz aller Fehler und Fehlentscheidungen zufriedenstellend gelebt worden ist, reicht der Einfluss des Romans über Kings bisheriges Werk weit hinaus. 

Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine würdige Fortsetzung von „The Shining“ handelt. Das ist „Doctor Sleep“ nicht negativ gesprochen auf keinen Fall, sondern eine interessante Fortführung einer Lebensgeschichte – aus der Vorlage werden nur zwei Charaktere, die Gabe und die eingebrannten Spuren der Ereignisse im „Overlook“ Hotel und schließlich für das Finale der Platz übernommen, wo das Hotel über Jahrzehnte gestanden hat -, die Stephen King mit allen Tragödien, aber auch kleinen Triumphen wie kein zweiter im Genre erzählt.  Dan und damit auch indirekt Jack Torrance und vielleicht der Autor finden ihren Frieden mit ihrem größten Feind – sich selbst.   

Originaltitel: Doctor Sleep
Originalverlag: Scribner
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 704 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-26855-5

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