
Robert Charles Wilson gehört zu den Science Fiction Autoren, die mit außergewöhnlichen, auf den ersten Blick vielleicht sogar absurd erscheinenden Ideen durch die dreidimensionalen Charaktere und vor allem eine sehr geradlinige Plotführung überzeugen können. Auch wenn die Zusammenfassungen der Inhalt seiner Romane das Gegenteil suggerieren.
Gleich zu Beginn scheint sich die Handlung auf einer Parallelwelt abzuspielen. Die Welt feiert einen hundertjährigen Frieden, beginnend im Jahre 1914. Im Laufe der Handlung relativiert der Autor diese Ansicht, da in dieser vor Pazifismus strotzenden Welt plötzlich aufkeimende Konflikte keine emotionalen Schockwellen unter den unbeteiligten Zuschauern verursachen, sondern wie in der bekannten Gegenwart des Lesers allgemein gültig als „menschlich“ pervers hingenommen werden.
Mit dem nächsten Schritt offenbart Robert Charles Wilson ebenfalls fast im Vorübergehen seine Idee. Ein außerirdisches Bewusstsein hat sich als eine Art Hyperkolonie in der äußeren Atmosphäre niedergelassen und die Erde umschlossen. Auch hier fügt der Autor gegen Ende des Handlungsbogens weitere Informationen hinzu. Durch die Manipulation von Radiowellen werden den Menschen friedliche Gedanken eingeflößt, so dass die angesprochenen Konflikte und Konfliktsituationen immer ohne Krieg gelöst werden sollen.
John Carpenter hat in „Sie leben“ eine pragmatischere und effektivere Idee mit den Fremden direkt unter den Menschen lebend und eine andere Welt vorspielend cineastisch entwickelt und über weite Strecken sogar sehr unterhaltsam aufgelöst.
Auch hier scheint sich der Autor eher ambivalent vorzugehen. Als Anspielung auf Filme wie die „Matrix“ gibt es dann noch die Simulacra, menschenähnliche Wesen oder Menschen, die von Ablegern des Alien in der Radiosphäre übernommen worden sind. Diese repräsentiert der grüne Schleim in ihnen. Anstatt in die typischen Horrorfilmklischees zu verfallen, konzentriert sich Robert Charles Wilson auf eine über weite Strecken in Ansätzen interessante Untersuchung der Idee einer Gemeinschaftsintelligenz, wie sie teilweise von den immer wieder zitierten Ameisenstaaten gelebt wird und dagegen die freie Meinungsbildung auch von gewalttätigen Individuen in Form der Menschen.
Diese konträren Ansichten schwächt der Autor gegen Ende des Handlungsbogen allerdings ab, in dem er die Ideen einer parasitären Erkrankung der außerirdischen Gemeinschaftsintelligenz ins Spiel bringt und damit das progressive Vorgehen einer kleinen Gruppe von Menschen auch zu Lasten der gesamten, jetzt wieder unkontrollierten und unkontrollierbaren Kriegen ausgesetzten Menschheit gegenüberstellt. Vielleicht schleicht sich Robert Charles Wilson in einigen Punkten aus seiner Verantwortung als Autor, aber grundsätzlich ist das Ausgangsszenario ausgesprochen interessant, wenn auch zusammenfassend spektakulär konstruiert entwickelt worden.
Der eigentliche Handlungsbogen beginnt mit der achtzehn Jahre alten Cassie, die in der Wohnung ihrer Tante auf ihren kleinen Bruder aufpasst. Vor sieben Jahren sind ihre Eltern ermordet worden. Sie waren Mitglieder einer außergewöhnlichen Gemeinschaft von Menschen, die vor einigen Jahren auf die Gemeinschaftsintelligenz in der Atmosphäre gestoßen sind. Dabei handelt es sich vor allem um Wissenschaftler. Eine Reihe von ausgesandten Simulacras haben in einer terroristischen Aktion fast alle zu einer Bedrohung werdenden Menschen umgebracht. Die wenigen überlebenden Mitglieder haben sich fernab von jeglicher Technik verschanzt und hoffen auf eine zweite Chance, gegen die Intelligenz vorzugehen.
Cassie erkennt in dieser Nacht einen Simulcra vor ihrer Haustür, der allerdings von einem Auto beim Überqueren der Straße überfahren wird. Sie flieht zusammen mit ihrem Bruder und beginnt den angeblich paranoiden Anführer der Gruppe zu suchen, während ihre Tante zusammen mit dem jungen Wissenschaftler Ethan Cassie und ihren Bruder sucht, um sie zu schützen.
Enttäuschend an dem vorliegenden Buch ist, dass die aus einem hundertjährigen Frieden entstandene Kultur dem Leser allerdings mit einem Abstand von fünfzig Jahren in der Entwicklung so vertraut ist. Es gibt so gut wie keine Unterschiede und Robert Charles Wilson impliziert, dass technischer Fortschritt ohne den brutalen Motor des Krieges genauso gut gelingt wie mit dem Massensterben auf den Schlachtfeldern der Welt. Interessant ist, dass zumindest die Produktion der Waffen auf einem vergleichbar hohen Niveau ist. Zusätzlich verweigert der Autor an einigen wichtigen wie ruhigen Passagen des Buches einen Blick über den Tellerrand, um diese Welt besser zu beschreiben. Sehr vieles bleibt an der Oberfläche und die ausschließliche Reaktion der Charaktere auf verschiedene Verfolgungen bis zum offensiven Finale wirkt sehr stark schematisch. Einzelne Actionszenen scheinen sich zu wiederholen. Da hilft es nicht, dass die Namen von bekannten Persönlichkeiten einen anderen Geschichtsverlauf mit dem angesprochenen Nachholpotential hinsichtlich der fehlenden Atomwaffen suggerieren.
Weiterhin liefert der Autor keine überzeugende Antwort, warum diese eher ambivalent behandelte Superintelligenz den Menschen durch ihre Art der Kontrolle „helfen“ soll. Hier hätte der Hintergrund besser entwickelt werden können.
Dadurch fällt es leichter, den Aktionen der Befreiungsbewegung zu folgen, auch wenn der Leser aus der Erfahrung seiner Gegenwart weiß, dass diese Loslösung von der fremden Intelligenz unweigerlich und konsequent zum Aufflammen von Kriegen führen wird. Dazu wirkt die beschriebene Gesellschaft zu stark wie ein Abziehblatt mit einem gigantischen Überdeckel der Gegenwart. In der Mitte dient das ungewöhnliche kleine Team mit den Jugendlichen allerdings als zugängliche Mittler auch dazu, mit sehr vielen Nebeninformationen den Handlungsfluss unnötig zu ersticken. Robert Charles Wilson ist entschlossen, die etablierte Position kräftig zu untermauern und die Fronten abzustecken, obwohl eine neutralere Position –warum mussten diese potentiellen Aufwiegler getötet und nicht ausgeschaltet werden? - zu Gunsten der Gesamtidee sehr viel mehr geholfen hätte.
Der angesprochene Finale in der Wüste mit der Raketenabschussbasis - eine Handvoll Wissenschaftler wird ausgeschaltet, die Gefährdung durch Raketen und die restlichen Überlebenden aber nicht – ist rasend geschrieben worden. Das Handlungstempo zieht wieder deutlich an und vor allem die Ecken und Kanten werden durch einige Actionszenen positiv gesprochen überdeckt. Im Gegenzug verliert die anfänglich resolut zum Schutze ihres Bruders agierende Cassie mehr und mehr an Persönlichkeit. Immerhin kennt sie die Menschen nicht, denen sie plötzlich nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihres Bruders anvertrauen soll. Warum sie selbst nicht mehr aktiv handelt, bleibt eines der strukturellen Probleme des vorliegenden Romans, zumal Robert Charles Wilson abschließend den großen literarischen Fehler macht, seine jugendliche Protagonistin wieder aus der handlungstechnischen Versenkung zu holen, um das Schicksal der potentiell neuen Welt auf ihre Schultern zu legen. Anstatt im Kollektiv agieren wirkt diese Fokussierung auf die jugendliche Heldin eher wie ein nicht nachvollziehbarer und offen gesprochen unnötiger Kompromiss.
Auch in seiner „Spin“ Trilogie hat Robert Charles Wilson mit großen Ideen effektiv und vor allem überzeugend, sehr spannend und geradlinig gespielt. „Kontrolle“ hat eine in der Theorie verblüffende wie großartige Grundidee, die im ersten Drittel mit dem Auftauchen der Simulacra und ihrer Vorgehensweise, sowie den Reaktionen der Menschen auch sehr gut umgesetzt worden ist, bevor der Spannungsbogen im mittleren Abschnitt einfriert und in einem zu hektischem wie unglaubwürdigem Finale endet. Dadurch wirkt das Buch ambitioniert, aber auch unausgereift und hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck. „Kontrolle“ ist einer der schwächsten Romane Robert Charles Wilsons aus den letzten Jahren.
- Taschenbuch: 400 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (9. Januar 2017)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453316584
- ISBN-13: 978-3453316584
- Originaltitel: Burning Paradise