The Coldest City

The Coldest City, Rezension, Titelbild
Antony Johnston und Sam Hart

Der Hinweis auf die Vorlage des Action- Thrillers des Jahres ist ein wenig irreführend. Das Comic geschrieben von Antony Johnston und gezeichnet von Sam hart ist weniger wie der Film eine exzentrische Actiongeschichte, auch wenn Mord eine wichtige Rolle spielt, sondern folgt der Tradition der Agentengeschichten eines Eric Amblers und eines John le Carres mit ihren gebrochenen Antihelden, die nicht selten von der sich verändernden Zeit überholt worden sind.

 Mit den harten schwarzweiß Zeichnungen  und vor allem vor dem Hintergrund Berlins ausgerechnet in den Tagen, in denen die Mauer gefallen ist, erinnert vieles an „Der Spion, der aus der Kälte kam“, wobei sich die Liste mit den Namen aller in Berlin agierenden Agenten anscheinend aller Geheimdienste fast wie eine Art MacGuffin darstellt.  Sie ist allgegenwärtig und für sie ist mindestens ein Mann ermordet worden,  am Ende ist sie nur ein weiteres Puzzleteil in einem immer komplizierter werdenden Paranoia Labyrinth.

 Die hochrangige Agentin Lorraine Broughton des MI 6 wird nach Berlin geschickt, um den Mord an einem Undercoveragenten zu untersuchen. Der ganze Plot wird über weite Strecken in Form einer Rückblende, eines Verhörs beschrieben. Auch diese Erzählebene ist Teil der Manipulation und wie eine Zwiebelschale am Ende nur ein weiteres Versatzstück in dem niemals verwirrend, aber in sich sehr spannenden Stück.

 In Berlin muss sie fast gegen ihre Natur mit dem Amerikaner David Perceval zusammenarbeiten, der Frauen im Allgemeinen und natürlich die unterkühlte, aber sehr viel erfahrener als sie nach außen scheinen lässt Lorraine Broughton nicht unbedingt ab kann. Lorraine Broughton versucht auf der einen Seite mit einem Schieber in Verbindung zu treten, der in Ostberlin nicht nur über wichtige Informationen verfügt, sondern ebenfalls einen Weg zur Liste finden könnte. Der vierte im Bunde ist ein Mitglied des französischen Geheimdiensts, der Lorraine Broughton eher folgt als das er eine Eigeninitiative zeigt. Dieser Protagonist vielleicht am ehesten als Klischee zu bezeichnen, ein Mann mit vollem körperlichen Einsatz. 

 Auch wenn Berlin im Herbst 1989 turbulente Zeiten durchlebt, zeigt sie sich nur an wenigen Stellen im Comic. Die Demonstrationen werden angesprochen und in einer wichtigen Szene sogar genutzt, um einen wichtigen Informanten zu ermorden. Die touristischen Attraktionen wie das Berliner Tor werden gestreift, aber ansonsten spielt die Stadt eine erstaunlich ambivalente Rolle. Sie ist allgegenwärtig und doch nicht vorhanden. 

   Auf der anderen Seite finden sich die Gespräche zwischen den alt gedienten Agenten, für welche das potentielle Ende des Kalten Kriegs auch das Ende ihres Lebens sein könnte. Nicht nur in mentaler Hinsicht, sondern wie sich zeigt, auch tatsächlich.

 Der Plot entwickelt sich ausgesprochen geradlinig. Auch wenn Lorraine während des Verhörs im heimatlichen London immer wieder andeutet, dass sie mehr weiß als sie ihren neugierigen Vorgesetzten Preis geben möchte, ist sie als Figur nicht so präsent, so auffällig auf die „Atomic Blonde“ aus der Verfilmung, welche eher wie ein Nikita Verschnitt erscheint. Sam Hart hat sich wahrscheinlich nicht ganz zufällig an den Konturen Modesty Blaise orientiert. Lorraine trägt gerne einen längeren Mantel, Rock, eine schlanke Erscheinungen, die absichtlich wie eine Silhouette wieder gegeben worden ist. Auf der anderen Seite verteidigt sie nicht nur effektiv ihre eigene Haut, sie ist aggressiv und progressiv. Am Ende wird sich zeigen, dass sie absichtlich ein in mehrfacher Hinsicht komplexes Spiel durchführt.

 Von der reinen Logik her betrachtet stellt sich mit den Informationen rückwärts betrachtet die Frage, ob es wirklich nur um diese Liste geht – ein Bruchstück der Fakten hat jeder der Beteiligten in Händen, die Namen der eigenen Agenten – oder sie viel mehr wichtige fremde Seilschaften ausschalten wollten. Lorraine steht dabei zwar im Mittelpunkt des Geschehens, sie ist aber weniger der Katalysator der Entwicklungen, sondern eher eine Art Zünder, der längst vor Jahren oder Jahrzehnten gelegte Lunten zum Glimmen bringt.   

 Die außerordentliche Spannung bezieht die Geschichte eben aus dem komplizierten Aufbau. Der Leser weiß wie Lorraines Vorgesetzten nicht, was wirklich die Wahrheit ist. Mitten im Handlungsbogen unterbricht einer ihrer Vorgesetzten den Erzählstrang und fordert Lorraine auf, die Wahrheit zu erzählen. Das Geschehen rollt ein zweites Mal ab, wobei weder ihr Chef noch der Leser wissen, ob es sich dieses Mal um die Wahrheit handelt. Rückblickend hat die Agentin eine weitere Variation erzählt und ihre Agentenkollegen noch weiter beschuldigt.

 Aber auch in diesem Punkt ist die Frage eines Doppel- oder Dreifachagenten in erster Linie perspektivisch zu betrachten. Kritisch gesprochen könnten sich zumindest einige der Protagonisten angesichts des Mauerfalls und vor allem dem politischen Ende des Kalten Krieges auch nur vor den Folgen ihrer vergangenen Taten flüchten. Eine solche Möglichkeit wird impliziert.

 Aber wie in allen Punkten gibt es keine umfassenden Antworten. Wie in einer guten Agentengeschichte – wobei es tatsächlich ein nicht nur zufrieden stellendes, sondern überraschendes Ende gibt – bleibt fast alles in den Schatten. Antony Johnston und Sam Hart malen das Bild einer dunklen paranoiden Welt, in welcher die Agenten beider Seiten – Ost und West – vor allem ihre eigenen Nationen schützen wollten. Dabei sind sie bereit, auch über Leben und Tod zu entscheiden. Wie stark sich diese Welt von einem Tag zum Anderen ändert, wird nur angedeutet, wobei das Comic aus heutiger, gegenüber dem Erscheinungsdatum 2021 schon wieder auf den Kopf gestellter Sicht nicht in die Tiefe gehen, sondern Strömungen zeichnen kann.

 Die Stärke der Story liegt in der Zeichnung der einzelnen Figuren. Sie erscheinen dem Leser gegenüber relativ schnell vertraut, auch wenn Sam Harts Zeichnungen sehr gerne auf Stilisierungen zurückgreifen. Lorraine Broughton wirkt vielleicht anfänglich zu distanziert, aber diese Isolation, dieser Fokus auf einer ambivalente Mission macht auch einen Reiz ihrer Figur aus. Je weitere der Plot voranschreitet, um so sympathischer wird sie dem Leser, bevor Antony Johnston am Ende der Geschichte wieder den Bogen unter den Füßen wegzieht und damit eine weitere Facette dieser komplizierten, so komplexen Agentengeschichte entlarvt.

 „The Coldest City“ ist unabhängig von der spektakulären Verfilmung ein interessantes Comic, eine Kalter Krieg Geschichte, die an längst vergessene und doch bis in die Gegenwart auf anderen Kontinenten wiederkehrende Agentenstorys allerdings der realistischen und nicht der James Bond Art erinnert. Hinzu kommt der einmalige, aber nicht unbedingt abschließend und gänzlich zufrieden stellend entwickelte, aber allgegenwärtige Hintergrund der damals noch geteilten Stadt. Johnston verzichtet weites gehend darauf, diese Ereignisse aus der Perspektive der Politiker oder des einfachen Volks zu beschreiben, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die Agenten, die aus dem Nichts heraus mit dem Wegfall ihres Lebenszwecks konfrontiert werden.

 „The Coldest City“ ist wie eingangs erwähnt positiv nicht so spektakulär wie es „Atomic Blonde“ sein möchte. Es ist eine intensive, eine packende Agentengeschichten, die lange im Gedächtnis bleibt.       

  • Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
  • Verlag: Cross Cult; Auflage: 1 (17. Juli 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 395981433X
  • ISBN-13: 978-3959814331
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