Forever Magazine 35

Forever Magazine 35, Neil Clarke , Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Die Jahresschlussausgabe 2017 weist neben einer Kurzgeschichte von Peter Watts auch zwei längere Texte auf, von denen vor allem eine Novelle durch ihre zeitlose Aktualität herausragt.

Ken Lius “The Man Who Ended History: A Documentary” ist die längste Geschichte dieser Ausgabe. Es ist auch die Umstrittenste. Nicht weil Ken Liu weit in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Grausamkeiten eindringt, welche die Japaner mit ihrer Unit 731 an unschuldigen chinesischen Zivilisten im perversen Namen medizinischer Forschungen begangen haben. Immer am Rande des Erträglichen beschreibt Ken Liu die Experimente aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Einmal die Opfer, anschließend die Täter überwiegend in Form von Erinnerungen längst vergangener Zeiten, zusätzlich als Science Fiction Elemente aus der Sicht der zeitreisenden Beobachter und schließlich unglaublich die Beschreibungen eines leitenden Offiziers in Form eines Briefes an seine in Japan lebende Frau. Reinste Propaganda, zynisch und dunkel. Es geht Ken Liu nicht nur um dieses Dunkel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, das vor allem Deutschen durch vergleichbare Experimente in den Konzentrationslagern genauso bekannt vorkommt wie die Karrieren, welche die japanischen Ärzte und Offiziere nach dem Krieg in ihrer Heimat gemacht haben. Die Vorlagen sind deckungsgleich.

Viel interessanter ist die Prämisse, die Ken Liu vor allem auch in einem direkten Vergleich zu Cixins Novelle „Spiegel“ gewählt hat. Es ist nicht richtig möglich, in die Vergangenheit zu reisen, es ist aber möglich, die Vergangenheit in Form einer gespiegelten Beobachtung direkt zu verfolgen. Aufgrund der zahllosen Datenmengen kann ein Computer kein Abbild, keine Simulation erstellen, nur das menschliche Gehirn ist in der Lage, die Vergangenheit zu filtern. Wie die Teleskope in den Tiefen des Alls das Licht inzwischen vergangener Sterne in der Gegenwart auffangen, stellt sich Ken Liu quasi ein umgekehrtes Teleskop vor, das in die Vergangenheit schauen lässt. Aber nur ein einziges Mal pro Epoche, der Augenblick ist dann für immer verschlossen. Da es nur ein Mensch sein kann, stellt sich in der in Berichtsform geschriebenen Geschichte schnell die Frage, ob diese Beobachter überhaupt objektiv sein können oder ihre Erlebnisse genauso subjektiv sind wie die Erzählungen von Überlebenden und Tätern nicht selten Jahre später oder die distanzierte Analyse von Historikern, die ja ausschließlich auf Sekundärmaterial basieren.

Grundlegend stellt Ken Liu die Frage nach Geschichte im Allgemeinen und historischer Wahrheit. An Hand der Greultaten der japanischen Ärzte versucht Ken Liu einen Hebel zu finden, um diese These allgemeingültiger zu diskutieren. Es ist schwierig, aus einer phantastischen wie subjektiven Perspektive eine globale Antwort zu finden. Im Grunde provoziert Ken Liu vor allem positiv seine Leser, über diese Ansätze nachzudenken. Vor allem in Kombination mit den Ansätzen, das unbequeme Geschichte nicht lukrative Geschäfte der Gegenwart unterminieren darf.

Ken Liu präsentiert abschließend in dieser auch auf der persönlichen Ebene ausgesprochen interessanten Novelle keine Antworten, sondern stellt eine Frage nach der Anderen. Das Science Fiction Element ist im Grunde nur eine Art Gimmick, ein Katalysator, um auch über den eigenen Blick in die Geschichte nachzudenken und fast sprachlos zu verfolgen, wie Vergangenheit und Gegenwart sich doch mit nur wenig anderen Prämissen zynischer weise ähneln.

Die zweitlängste Geschichte dieser Sammlung "Stellar Harvest" ist nicht nur für den NEBULA nominiert worden, Eleanor Arnason hat in der Zwischenzeit seit der Erstveröffentlichung im Jahr 1999 eine ganze Reihe von Storys um Lydia Duluth verfasst, die für populäre Videodramen entsprechende Planeten und ihre exotische Flora und Fauna scoutet. Die Grundidee ist schon bodenständig wie faszinierend zu gleich. Da sie für eine der bekanntesten fortlaufenden Kitschserien mit einem überdimensionalen wie überdimensionierten Star nach Location sucht, wird sie immer wieder auf ihn angesprochen.

In einem weiteren Exkurs in Form eines Zwiegesprächs mit dem Leser spricht die Protagonistin davon, das das Leben nicht so wie die Soaps sein könnte, welche sie mit produzieren hilft. Natürlich kommt es anders. Auf dem idyllischen wie einsamen Planeten versucht einer der Einheimischen ihr Reittier zu stehlen, sie schießt ihn ab. Ab diesem Augenblick entwickelt sich ein Dialog, der absichtlich wie aus einer Soap Opera klingt, aber auch doppeldeutig ist. Der überdimensionale Einheimische berichtet nicht nur vom harten Leben auf dem Planeten, sondern seinem Bruder, der gerne den mit seinen Träumen von den Sternen aus der Art geschlagenen Verwandten aus dem Weg räumen möchte. Auf ihrer gemeinsamen Flucht geraten die Beiden in mehrere Gefahren. Auf einer zweiten Ebene kommentiert eine Lydia begleitende K.I. das Geschehen. Alleine dieser Ansatz würde ausreichen, um eine weitere Novelle zu füllen. Die Außerirdischen haben die Erde übernommen und entschieden, dass nur jemand zu den Sternen reisen darf, der einen derartig künstlichen Begleiter mit sich schleppt. Nur ist der nicht wirklich hilfreich, wenn er wichtige Situationen zu spät erkennt oder gänzlich ignoriert.

Ohne auf Situationskomik zurück zu greifen oder die spannenden Situationen zu sehr zu überspannen zeichnet die Autorin die Reise von ausgesprochen dreidimensionalen und sympathischen Protagonisten in Form einer Schicksalsgemeinschaft nach.  Dank der selbstironischen Persönlichkeit Lydia Duluths werden auch einige Längen im Mittelteil überdeckt, in denen die Autorin nicht gänzlich entschlossen den Plot vorantreibt und sich von der von ihr entwickelten "Landschaft" buchstäblich einfangen lässt.

Zusammengefasst ist die unter dem auch in mehrfacher Hinsicht passenden Titel veröffentlichte Novelle "Stellar Harvest" eine kurzweilige gute Space Opera Unterhaltung, die aber in einem scharfen, fast zu starken Kontrast zu Ken Lius dunklen Text steht. Dadurch werden die Stärken Eleanor Arnasons zu sehr in den Schatten gedrängt und "Stellar Harvest"  kann aus sich heraus nicht so sehr glänzen. 

Peter Watts hat in "Malak" vielleicht als technische Antwort  auf die Bombe in "Dark Star" das emotionale Erwachen einer modernen Drohne auf Feindflug beschrieben. Fokussiert auf nur ein Objekt ist es schwierig, für den Leser einen Identifikationspunkt zu setzen. Dem Autoren gelingt es aber ausgesprochen gut, zu Beginn die unterkühlte und effektive Brutalität zu beschreiben, mit welcher die Drohne ihren Auftrag ausführt. Der Mittelteil besteht nicht nur aus dem angesprochenen Erwachen, sondern den inneren Konflikten, wobei Peter Watts die klassisch emotional kitschige Ebene positiv ausschließt. Das Ende ist zynisch und adäquat.  Peter Watts Science Fiction ist niemals einfach und nicht selten verliebt sich der Kanadier zu sehr in seine technokratische Welt, aber als Abschluss dieser 2017er Ausgabe ist "Malak" eine interessante, wie im Tenor aller Geschichten dieser Ausgabe provokante Spekulation.

 

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96 Seiten, E Book