Spiegel

Spiegel, Cixin Liu, Titelbild, Rezension
Cixin Liu

„Spiegel“ ist kein neuer Roman des „Die drei Sonnen“ Trilogie Autoren Cixin Liu. Es ist eine 2004 veröffentlichte und prämierte Novelle. Der Heyne Verlag hat das schmale Büchlein mit zwei langen Leseproben sowie einem ausführlichen Nachwort von Sebastian Pierling auf eine Länge gebracht, die einen einzelnen Verkauf rechtfertigt.

 Die Grundidee wirkt wie eine Mischung aus Galouyes „Welt am Draht“,  sowie Bob Shaws und Arthur C. Clarkes Geschichten um eine Art „Wunderglas“, das den Blick in Parallelwelten ermöglicht, in denen die grundlegenden Tagesabläufe gleich sind. Auch wenn die Basis klassische Science Fiction nur durch einen fiktiven Supercomputer im Handkofferformat ergänzt wird, entwickelt der Autor aus dieser Prämisse eine interessante, erstaunlich kritische Geschichte, die auch mit den vordergründig zu oft propagierten kommunistischen Strukturen im oligarchischen China aufräumt und ein bitterböses Bild der Korruption und der Habgier beginnend auf den unteren Ebenen zeigt. Der Text konnte wahrscheinlich in China veröffentlicht werden, da die Idee des Spiegeluniversums gleichzeitig zu einer Läuterung der unteren Ebenen inklusive der entsprechenden Übernahme von Verantwortung führt, während das Zentralkomitee in Peking offen wieder wie eine Art besänftigende  Propaganda als ehrlich und entschlossen den subversiven Kräften gegenüber beschrieben wird. Ein Kniefall gegenüber den Herrschenden, auch wenn die Leser keinen Augenblick glauben, dass nur der organisierte Körper des Riesenreichs verfault ist, während der führende Kopf reinen Herzens den gegenwärtigen kapitalistischen Kommunismus der Partei vertritt.

 Am Beispiel eines Bezirkskommandanten macht Cixin Liu deutlich, das pro aktive Handlung und vor allem eine durchgreifende Entschlossenheit in ihm das Gefühl der Erfüllung, des guten Gewissens entstehen lassen, bevor er für seine eigene Fehlverhaltungen die Konsequenzen übernimmt. Fatalistisch, sozialkritisch und doch am Ende auch ein wenig gebogen.

 Neben der Parteikritik ist aber die Idee des Spiegels ausgesprochen gut präsentiert. Song Cheng ist ein junger ehrgeiziger Beamter, der auf der Jagd nach bestechlichen Beamten schließlich durch eine perfide Falle – er soll seinen angeblichen Liebhaber ermordet haben – ins Gefängnis gesteckt wird. Dort begegnet er schließlich als Besucher dem geheimnisvollen Mann Bai, den die örtliche Polizei schon lange sucht. Anscheinend kann er alles sehen und ist den Beamten immer im Großen wie im Kleinen einen Schritt voraus. Die beiden Männer werden während der Besuchszeit von den örtlichen Beamten gestellt. Bai offenbart sein Geheimnis. Er hat lange Zeit in der Wetterprognose gearbeitet und mittels einer der Computer ein neues Programm entwickelt, das Universen entstehen lässt. In seinem Handkoffer hat er den Computer dabei. Eines dieser vielen Universen mit der Nummer 1207 ist eine perfekte Spiegelung ihres Universums, so dass er alles im Grunde zeitnah sehen kann. Zusätzlich kann er Spuren bis in die tiefste Vergangenheit verfolgen.

 Anfänglich entmystifiziert er die Vergangenheit. Marco Polo ist ein Schwindler gewesen, der niemals nach China gegangen ist. Auch eine andere Persönlichkeit ist nicht der Heiland gewesen, als der er immer wieder gesehen worden ist. Geschichte ist also Schall und Rauch. In die Zukunft kann nicht gesehen werden, dazu reicht das Programm nicht aus. Der örtliche Polizeipräfekt erfährt, wie stark die Korruption seine Stellen durchdrungen hat und selbst vertraute Mitarbeiter zweigen Gelder ab, um das sorglose Leben des in den USA studierenden Sohns zu unterstützen. Im Grunde bricht seine Welt durch den Weitblick des Spiegels in sich wie ein Kartenhaus zusammen.

 Am Ende extrapoliert „Spiegel“ diese Grundidee in zwei Richtungen weiter. Auf der einen Seite die örtliche und momentane Säuberung des kleinsten parteilichen Ebenen mit der Maßgabe, Bai und seinen Computer zu Partei zu schicken. Auf der anderen Seite in einem Exkurs gibt es schließlich doch die Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen. Da der Spiegel im Grunde alles sieht, ist eine komplette Kontrolle der Bevölkerung in der George Orwell Tradition genauso möglich wie die Elimination des Verbrechens. Am Ende bricht die Gesellschaft unter dem Gewicht der allgegenwärtigen Last der Allwissenheit nach einer langen Zeit der Stagnation zusammen.

 Hier setzt eine weitere Idee an. Ohne zu viel zu verraten handelt es sich um einen Exkurs, den neben „Welt am Draht“ und den „Matrix“ Filmen auch zahlreiche andere Science Fiction Romane gegangen sind. Es stellt sich die Frage nach der Realität und der Individualität. Im Epilog will Cixin Liu diese Frage nicht unbedingt beantworten, sondern zeigt eine weitere Variation, im Kern eine potentielle Abweichung auf. Natürlich ist die Frage interessant und diskussionswürdig, dazu reicht aber der Platz der Novelle nicht aus.

 Auch wenn der Text ausgesprochen gut und überdenkenswert geschrieben worden ist, versucht Sebastian Pierling hinsichtlich der Kosmogenie des Autoren zu viel aus der Romantrilogie abzuleiten, auf welche sich auch das Zitat von Barack Obama auf dem Klappentext bezieht und zu wenig im eigentlichen Text nach Ansätzen zu suchen.

 Natürlich baut der Autor eine Art Zwiebelschalenmodell auf, in dem anscheinend wie der Epilog deutlich macht, in beide Richtungen geschaut werden kann. Auch die soziale wie politische Bedeutung mit der perfekten allumfassenden Bewachung wird angedeutet, es fehlt aber die Extrapolation. Vieles bleibt auf der kleinsten zwischenmenschlichen Ebene, in dem es dem Leser durch die Dialoge, die erstaunlich ruhigen und erwachsenen Gespräche vermittelt wird.

 Vielleicht wäre ein Ausbruch, eine Extrapolation dieser Idee auf Romanlänge sinnvoll gewesen. So wirkt „Spiegel“ wie eine gut geschriebene These, die auf der persönlichen Ebene wie der Beobachtung der ersten Lebensjahre eines der Protagonisten anspricht, aber die inne wirkende Explosionsgefahr schließlich in den Bereich der nur indirekt erfahrenen Möglichkeit verschiebt. Die Vorschau erinnert nicht zufällig an die dunklen Warnungen, die HG. Wells namenloser Reisender in „Die Zeitmaschine“ ausspricht.

 „Spiegel“ gehört zu einer Reihe von sehr guten Science Fiction Geschichten aus China, in denen durch utopische Ideen des Westens auf eine einzigartig asiatische im Allgemeinen und chinesische Art und Weise im Besonderen extrapoliert und durchaus sozial- und parteikritisch extrapoliert werden. Durch die extreme Komprimierung mit einem Auftakt, der fast an Alan Moores paranoide Comics wie „V for Vendetta“ and „Watchmen“ erinnert, überzeugt der Text im Grunde bis zur Präsentation von Universum 1207 und seinen Auswirkungen, bevor Cixin Liu zu viele in sich sehr wichtige Aspekte auf zu wenigen abschließenden Seiten abzuhandeln versucht und damit seinem Text auch einen Teil der notwendigen Würze nimmt.

Wer sich vor der „Die drei Sonnen“ Trilogie noch scheut, kann zumindest mit „Spiegel“ einen ersten Einblick in Cixin Lius empfehlenswertes Werk nehmen.  Als zusätzliche Quellen moderner chinesischer Science Fiction veröffentlicht seit vielen Jahren das amerikanische E- Magazin „Clarkesworld“ mindestens eine Geschichte pro monatlicher Ausgabe aus Asien und „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ einzelne Texte, die nicht selten von Ken Liu ins Englische übersetzt worden sind. Zusammen bieten sie einen guten Überblick über den Stand der chinesischen Science Fiction der Gegenwart.

 

  • Taschenbuch: 192 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (9. Oktober 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453319125
  • ISBN-13: 978-3453319127
  • Originaltitel: (Jìngzi)