Pirate Utopia

Pirate Utopia, Rezension, Titelbild
Bruce Sterling

Bruce Sterlings Kurzroman ist eine der seltenen Arbeiten, in denen die reale Geschichte faszinierender ist als der in Anlehnung an den selbst kreierten “Dieselpunk“ alternative Geschichtsverlauf. Das kleine handliche Hardcover mit den zahlreichen Zeichnungen wird von einem Vorwort Warren Ellis gut eingeleitet. Hinzu kommt abschließend ein im Vorwege lesenswertes Interview, in dem Bruce Sterling nicht nur auf seine Inspiration eingeht, sondern auch die italienische Science Fiction Bewegung und sein eigenes Leben südlich des Brenners. Der ebenfalls ausgezeichnete SF Autor John Coulthart hat nicht nur die martialischen, an die kommunistischen Propagandaschriften erinnernden Zeichnungen gestaltet, sondern geht in seinen Notizen auf seine eigene künstlerische Vorgehensweise ein. Das Büchlein wird durch ein vielleicht zu euphorisches Nachwort von Christopher Brown abgeschlossen.

Am Leichtesten und Zugänglichsten ist der Plot von seiner historischen Komponente aus, da Bruce Sterling munter Ideen des Übermenschen in Form eines heroisierten Helden – nach dem Ersten Weltkrieg baut er Torpedos -  mit propagandistischen Klischees sowie mehr und mehr der Zweckentfremdung bekannter Autoren – Robert E. Howards als Houdinis Helfer und H-P- Lovecraft als Abgesandter der amerikanischen Regierung -  munter zu einer bunten Geschichte mischt, deren offenes Ende für einen weiteren Roman ausreicht. Bruce Sterling gibt das auch in dem Interview zu.

Im Mittelpunkt steht neben den exzentrischen, aber auch interessanten Charakteren vor allem die Provinz oder besser die Stadt Fiume. Im Ersten Weltkrieg ein wichtiger Hafen und eine militärische Produktionsstätte ist die Provinz zu aller Überraschung anschließend durch das Edikt der Siegermächte Italien genommen und dem neu gegründeten Jugoslawien zugeschlagen worden.   1919 eroberte der Dichter und Kriegsheld Gabriele D´Annunzio die Stadt zusammen mit knapp einhundertsechzig Veteranen fast unblutig wieder für Italien zurück, das aber die Provinz offiziell gar nicht haben wollte. So entstand eine Art Freiraum, in dem sich Künstler und Anarchisten, zukünftige Faschisten wie Mussolini und schließlich die ewig Gestrigen sammelten. In der Realität brach dieses Gebilde nach knapp fünfzehn Monaten zusammen. In Bruce Sterlings Geschichte bleibt das Schicksal der Stadt offen, da der Kriegsheld den Verlockungen Amerikas erliegt und schließlich an einem ganz anderen, in der Geschichte erst zwanzig Jahre später verwirklichten Projekt mitarbeiten sollte. Alleine diese historischen Verwerfungen sind willkürlicher und phantastischer, surrealistischer als die tatsächliche Geschichte. In Fiume sammelte sich aber noch eine Gruppe von Freidenker. Sie nannten sich die Futuristen, wobei es sich eher auf eine realpolitische Zukunft bezieht als die Idee der Science Fiction, die wenige Jahre später Hugo Gernsback geschäftspolitisch in seinen Magazinen ausnutzen sollte.

Es ist wenig überraschend, dass Sterling in seiner überlebensgroßen Geschichte auf diesen Aspekt nachhaltig zu wenig eingeht. Es sind viel mehr die anderen dramaturgisch aufgemotzten Ereignisse, welche die Story so übertrieben, so unwirklich erscheinen lassen und trotzdem gut unterhalten.  

So beginnt die Story mit einem Kinobesuch.  Lorenzo Secondari – als  die fiktive Inkarnation des wirklichen Kriegshelden – besucht mit seinen Piraten und seiner platonischen Liebe in Person der Kommunistin Blanka Piffer eine Kinovorstellung einer bekannten italienischen Diva im Nachbarort. Von allen Hauptpersonen in diesem Drama sind es die einzigen fiktiven Charaktere. Secondari wird wie eingangs erwähnt als der untote Übermensch beschrieben. Seine Seele hat seinen schwer verletzten Körper in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verlassen. Durch eine Methode, die eher an Voodoo erinnert, ist sie wieder eingefangen worden. Jetzt ist Secondari im Grunde furchtlos. Er ist ein brillanter Ingenieur, der basierend auf den Torpedos der österreich- ungarischen Marine bzw. deren Resten eine neue Wunderwaffe erschaffen hat. In dieser Hinsicht bleibt Sterling ausgesprochen ambivalent. Er produziert sie in den Resten einer ehemaligen Waffenfabrik in Fiume mit seinen im Grunde Genossen. Bruce Sterling bezeichnet sie als Piraten, sie sehen sich als Nachfolger der Freibeuter. Sie leben vom Schmuggel und Verkauf von Kriegswaffen, mit denen sie die Produktion der neuen Wunderwaffen starten.  

Der Aufbau dieser ersten Szene ist klassisch für den ganzen Roman. Ohne Geld überreden die Piraten schließlich die Eintrittskartenverkäuferin, sie einzulassen. Es sitzen allerdings schon italienische Soldaten in den Rängen. Natürlich benehmen sich die Piraten, wie es sich für eine solch außerordentliche Gruppe gehört. Während Secondari sich in die Schauspielerin auf der Leinwand – über ihren Hintergrund erfährt der Leser später mehr -  ebenfalls eher schwärmend verliebt, toben außerhalb des Kinos die Demonstrationen der Marxisten, welche Secondari mit seinen Leuten auflöst. Mit einem Bluff annektieren sie deren Panzer und beginnen das neue Fiume unter der Anleitung des aufgrund seiner Kriegsverletzungen – er ist fast taub – auch ein wenig gehemmten Secondari aufzubauen. Da in Sterlins Version das kleine anarchistische Reich nicht nach wenigen Monaten zerfällt, kann der in Italien teilweise lebende Amerikaner historisch aus dem Vollen schöpfen.    

Anschließend beschreibt Sterling eher mittels plakativer Schlaglichter und Episoden die weitere Entwicklung, wobei sich die politischen Veränderungen meistens in Form von Manifesten abspielen. Am Ende „adelt“ der Fürst von Aosta das neue Reich durch seinen Besuch. Er sitzt in einer der zahllosen, so sprachlich beeindruckend beschriebenen Szenen am gleichen Tisch wie die Piraten.

Da der Stadtstaat auch strategisch gut ist, entsenden die Amerikaner mit Houdini und seinem Assistenten Robert E. Howard sowie dem Public Relation Manager H.P. Lovecraft gewichtige Argumente, um den unverbrauchten pragmatischen Ingenieur und Politiker Secondari in die USA zu holen. Einen weiteren Bogen schlägt Sterling, wenn Mussolini als Chefredakteur einer örtlichen Zeitung von seiner Frau und seiner Geliebten mit eines gut gezielten Schusses entmannt wird oder Blanka Piffers in Deutschland im Gefängnis sitzenden Mannes davon berichtet, dass ein brillanter Redner mit einem Schnurrbart ihn vor den Kugeln der Extremisten unter Opferung des eigenen Lebens gerettet hat.

Der Faschismus hat in Sterlings Welt keine echten Wurzeln gefunden, wobei im Umkehrschluss allerdings auch Secondari eine Art idealisierte kommunistische Volksbewegung vertritt, die gegen alle Gesetze oder Regeln zumindest in diesem fiktiven Fiume sogar lebensfähig ist. Wer sich über die Gemeinschaft stellt, bekommt es mit dem Superheldenübermenschen Secondari zu tun, der mehr als einmal zur Waffe greift, ohne deshalb ein brutaler Mörder zu sein. Sie basiert auf den eher theorisierten Prinzipien der Futurist, deren Thesen im Nachwort noch einmal zusammengefasst worden sind. Immer am Rande des Populismus auch mit einem Hauch Fremdenfeindlichkeit beschreibt Sterling im Grunde eine Gegenbewegung, die Individualismus in einem allerdings regional beschränkten Staatssystem propagiert und dem Populismus mit seinen großspurigen Worten eine tatkräftige Gegenbewegung des bodenständigen Mannes der Straße entgegenstellt. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Sterling bewegt, denn seine politischen Thesen aus einer im Grunde schwierigen historischen Lage heraus ins Nichts hinein geboren und von den Stürmen der Geschichte nach kurzer Zeit verschlungen erinnern genau an die Propagandastoffe, die wenige Jahre später – aus der Sicht des Handlungszeitraums 1919/ 1920 gesehen – Europa in den noch schlimmeren Zweiten Weltkrieg führen sollten.  

Es ist vielleicht auch die größte Schwäche dieser eher als Farce zu betrachtenden Geschichte. Sterling bleibt ambivalent. Wie viele frühere Cyberpunks steht er dem Kapitalismus nicht nur der Gegenwart gegenüber kritisch gegenüber. Mit den historischen Figuren Lovecraft und Howard – der Leser kann sie nicht nur aufgrund der Namensnennung, sondern ihrem Gehabe inklusiv des Verweises auf die Allgegenwart der Mütter erkennen – als Vertreter der amerikanischen Regierung sowie Houdini als dem zukünftigen Edgar Hoover dieser Parallelwelt hat er auch ausreichend Potential, um die aggressive Politik der Amerikaner zu demaskieren. Aber er kann ihnen nichts entgegenstellen, da er zu gerne an verschiedenen Idealen und idealisierten Momenten kleben bleibt und sich als neutraler Erzähler nicht überwinden kann, auch diese anarchistische Form einer in der Praxis nicht funktionsfähigen Regierung kritisch zu hinterfragen. Übrig bleibt im Grunde die von Frau Piffer geleitete Fabrik voller unabhängig denkender Frauen, die ihren Mann nicht nur im Krieg gestanden haben, sondern eine neue Gesellschaftsform einleiten werden. Eine Gesellschaft, in der gegen den italienische Machogeist Frau und Mann gleichberechtigt sind.

Zusammengefasst ist unabhängig von den angesprochenen Schwächen „Pirate Utopia“ eine Art zum Worte gewordene Comicfassung einer auf der einen Seite positiv gesprochen profaschistischen Geschichte, die nicht in einer Art Nazideutschland Variation spielt, sondern sich den Wurzeln dieser Bewegung allerdings auf eine viel zu verspielte, viel zu anarchistische Art und Weise annimmt. Vieles wird nur durch Streiflichter für einen Moment beleuchtet, aber niemals in der Tiefe untersucht. Vieles impliziert der Autor nur, verfremdet es und stellt es nicht nur historisch auf den Kopf. Seine Figuren unterhalten sich nicht, sie schwingen Reden.  Dadurch wirken sie tatsächlich wie fiktiven Manifesten entstiegen und deswegen erscheint die ganze Story eher wie eine Parabel.

Auch wenn die Kürze des Textes Bruce Sterling es nicht erlaubt, in die Tiefe zu gehen, finden sich so viele Ansätze in dieser eine im Grunde unbekannte Episode der Geschichte ins Rampenlicht zerrenden Story, dass der Leser nur staunen kann. Und wieder sind die Tatsachen phantastischer als die Phantasie der Autoren. Nicht nur deswegen ist es Bruce Sterlings reifste Arbeit seiner andauernden italienischen Phase.  

     

 

  • Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
  • Verlag: Tachyon Publications (15. November 2016)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 1616962364
  • ISBN-13: 978-1616962364