
„Moonatics“ ist der erste Roman Arne Ahlerts, der wie sein Ich- Erzähler Alter Ego viele Jahre unter anderem als Backpacker durch die Welt gezogen ist. Im Vergleich zu vielen anderen Debütromanen hat der inzwischen in Berlin- Kreuzberg lebende Arne Ahlerts ein gutes Korsett gefunden, um diese Erfahrungen in einen nicht unbedingt stringenten, im Mittelteil fast phlegmatischen Roman einzupassen, der eher wie ein großes Panorama einer „neuen“ Gesellschaft erscheint, die schnell und erbarmungslos von ihren Fehlern und ihrer individuellen Vergangenheit eingeholt wird als eine klassisch aufgebaute Satire. In dieser Hinsicht wirkt der Klappentext der Veröffentlichung vielleicht sogar zu oberflächlich.
Das Titelbild der „Das Illustrat Gbr“ ist ein Augenfänger, auch wenn es unterschwellig einen satirischen, einen humorvollen Roman impliziert. Zumindest zu Beginn hat Arne Ahlert eher auf diese Schiene gesetzt, bevor er quasi nach der ersten Hälfte- ein Bruchpunkt ist die Einweihung des ersten Golfplatzes auf dem Mond – den Ton absichtlich verdunkelt, den Plot tempotechnisch anzieht und eine Reihe von Schicksalsschlägen auf den nicht unbedingt sympathischen, aber opportunistischen Protagonisten einhageln lässt.
Da Arne Ahlert im Verlaufe der teilweise mosaikartigen Handlung verschiedene Themen vom obligatorischen wie bewaffneten Angriff auf das Großkapital über die stetig zunehmende Unbewohnbarkeit der Erde hin zu den geschäftstüchtigen Chinesen anspricht, wirkt das Konstrukt als Ganzes teilweise zu stark geplant als natürlich erzählt. Sein angenehmer, allerdings sehr wenig variabler Stil überdeckt diese Schwächen, wobei der Autor nicht selten eine Enge, in die er sich geschrieben hat, mit einem absurden Bild auflöst. Exemplarisch sei hier der Fakir genannt, der durch das Vakuum auf dem Mond wandelt und es als Irrealität ansieht.
Das schwächste Glied ist das vielleicht ein wenig zu offene Ende. Neben einigen Wahnvorstellungen einer neuen surrealen Existenzebene wird nur angedeutet, ob der Ich- Erzähler durch seinen viele Kapitel vorher begangenen Fehler – er musste einen unglücklichen Mord vertuschen – weitere Menschen in Lebensgefahr gebracht hat oder nicht. Auch die Idee, dass der Webdesigner Darian Curtis natürlich an seinem 42. Geburtstag – die Anspielung auf Douglas Adams wird vorsichtshalber noch einmal kurz erläutert – von seinem bislang unbekannten Vater ein Aktienpaket geschenkt bekommt, mit dem er auf der einen Seite den Trip zu Mond bezahlen kann, auf der anderen Seite die Steuern aber vergessen hat, wirkt nach der Aufdeckung der Identität seines Vaters eher konstruiert und scheint den Bogen der futuristischen Glaubwürdigkeit dieser teilweise kapitalistischen Hippie Kultur – sie leben Krater an Krater mit dem jeweiligen sozialen Erzfeind - kippen zu lassen.
Auf jeden Fall ermöglicht ihm die Erbschaft inklusiv entsprechender Verkaufsempfehlung, zum Mond zu reisen und dort in einem Luxusressort drei Wochen Urlaub zu machen. In eingeschobenen, von leichter Hand geschriebenen Erläuterungen bringt Arne Ahlert den Leser hintergrundtechnisch auf den neusten Stand. Die Chinesen haben den Mond unter Kontrolle, weil sie erstens die richtigen Leute rechtzeitig geschmiert haben, zweitens ihre eigene Basis errichteten und schließlich die Amerikaner als Zweite zwangen, wo anders zu landen und sogar ein eigenes Transportnetz nachträglich aufzubauen. Das Ressort mit seiner Hotelanlage gehört zwei reichen Exzentrikern, die mit ihren gigantischen Yachten die Mondeinöde durchqueren. Der Klappentext suggeriert, dass es der „Beginn des größten und verrücktesten Abenteuers seines Lebens“ ist, wobei Arne Ahlert in erster Linie einen Entwicklungsroman geschrieben hat, der von Triumphen und Tragödien seines Protagonisten geprägt ist. Natürlich befindet sich Darian Curtis im Mittelpunkt verschiedener „Strömungen“ und Bewegungen, aber wie der Zeitraffer aussagt, ist er rechtzeitig von der Erde entkommen, die angesichts der fortgeschrittenen Umweltverschmutzung und der Überbevölkerung, absurder Atomtest mit fatalen Folgen für Städte wie Los Angeles nur noch dreißig Jahre für die Menschen bewohnbar erscheint.
Da er durch den Aktienverlauf extreme Steuerschulden hat, obwohl er rechtzeitig von seinem Anwalt auf die entsprechenden Formulare hingewiesen worden ist, entscheidet er sich, auf dem Mond zu bleiben und dort Arbeit zu finden. Er lässt sich ein polizeiliches Führungszeugnis fälschen und beginnt verschiedenen Interessengruppen auf dem Mond zu begegnen.
Bis zu diesem ersten Wendepunkt der Handlung konzentriert sich Arne Ahlert vor allem darauf, den Hintergrund seiner Geschichte zu extrapolieren und dadurch seinen ein wenig eindimensionalen und distanzierten Ich- Erzähler im kritischen Auge des Lesers aufzumöbeln und ihm so etwas wie eine aktive Persönlichkeit zu geben. Um die Welt reisen und verzweifelt auf die kontinuierlich fortschreitende Umweltzerstörung zu schauen, reicht nicht, um ein Abenteuer, einen ganzen Roman auf den Schultern zu tragen.
Dabei geht Arne Ahlert geschickt vor. In dieser futuristischen Welt ist sein Protagonist ein Außenseiter. Nach und nach wird er die „Karriereleiter“ auf dem Mond nach oben fallend nicht nur in die semipolitischen Vorgänge eingeweiht, sondern auch zu einem wichtigen Bindeglied zwischen dem Leser und dieser erstaunlich vielschichtigen Gesellschaft. Ein weiteres Bindeglied scheint der Roboter Bruce zu sein, der mit seinen lakonischen Kommentaren und unorthodoxen Handlungsweisen allerdings auch aus der Art geschlagen zu sein scheint. „Futurama“ lässt ohne die Depression grüßen. Auch hier dreht Ahlert die Handlung gegen Ende einmal um einhundertachtzig Grad, negiert die Robotergesetze eines Isaac Asimovs und lässt die Gewalt kurzzeitig explodieren, um auch diesen Handlungsfaden mit einer kleinen politischen „Deus Ex Machina“ Lösung abzuschließen. Bauten die ersten Episoden mehr oder minder aufeinander auf, wirkt Arne Ahlert am Ende hektisch. Nicht jede der nach einem provozierenden wie leider durch einen Zufall auch unnützen, aber den Leser schockierenden Selbstmord aufgegriffenen Episoden ist originell oder in sich abgeschlossen. Überambitioniert treibt Arne Ahlert zu Lasten der exzentrischen, aber interessanten Charaktere den übergeordneten, schließlich aber nicht vollendeten Spannungsbogen voran. Während das erste Drittel des Buches in erster Linie stimmungstechnisch die Welt charakterisierend ist, wirkt das letzte Drittel des Romans wie angesprochen zu überambitioniert. Es stellt sich die Frage, ob wirklich alles in diesem Buch abgeschlossen werden muss? Natürlich ist der finale Ausverkauf des Kapitalismus an den kommunistischen Gewinn und Machtoptimierungsapparat ein wichtiges Ausrufezeichen, das aufzeigt, dass sich die Haie im Finanzhaifischbecken niemals ändern werden und Moral nur eine kleine Rolle spielt. Aber die Vorbereitung zu dieser Erkenntnis erscheint wie eine Variation der Ränkespiele aus Fernsehserien wie "Dallas", umgeschrieben und mahnend untermauert für das 21. Jahrhundert.
Aber übereifrig beginnend mit den deportierten Investmentbankern als absolutes wie klischeehaftes Gesicht des Bösen und endend mit der Befreiung der ehemaligen Manager sowie dem Festsetzen der frei denkenden Hippies und den Mitgliedern einer brutalen wie ambivalent agierenden internationalen Terrorismusorganisation, welche den „IS“ als Waisenknappen erscheinen lässt, will der Autor belehrend und manifestierend aufzeigen, dass der Kampf gegen den Kapitalismus im Grunde verloren ist. Es ist eine fatalistische Einstellung, die durch die kleinen Pyrrhussiege der letzten freien Denker auf dem Mond ein wenig relativiert wird.
Vorsichtshalber schiebt der Autor auch noch eine Naturgewalt nach, um zu zeigen, dass die Machtkämpfe der Menschen untereinander – alle von der inzwischen bist auf kleine Enklaven unbewohnbar gewordenen Erde exportiert – im Grunde ein unbedeutendes Ereignis im direkten Vergleich mit kosmischen Ereignissen sind.
Trotz der einzelnen Kritikpunkte ist „Moonatics“ aber eine interessante Lektüre. Arne Ahlert hat ein sehr breites Spektrum von ausgesprochen unterschiedlichen, aber immer lebendigen und gut voneinander unterscheidbaren Charakteren entwickelt, die den Leser teilweise über den Tod hinaus begleiten. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie gut oder böse sind. Minutiös mit sehr viel Liebe zum Detail, aber auch der Fähigkeit, einige Personen tragisch sterben zu lassen, wirken sie einfach lebendig. Ein größeres Kompliment kann vor allem einem debütierenden Romanautoren nicht gemacht werden.
Dazu kommt seine Mondbesiedelung beginnend mit der chinesischen Basis, dem Hotel, schließlich dem Golfplatz, dem Garten Eden, dem Krater Beverly Hills oder den Wohnsiedlungen der „Moonatics“ – auch wenn sie für den einfallsreichen Titel stehen, spielen sie leider viel zu wenige Rollen in diesem exzentrischen „Mondspiel des Lebens“ - , die dank Darian Curtis und der ausschließlich auf seiner Augenhöhe spielenden Handlung besucht werden. Arne Ahlert hat sich viele Gedanken gemacht, die bestehende Technik extrapolierend eine Mondbesiedelung darzustellen, die dann den langweiligen technokratischen Gedanken der Wissenschaftler widerspricht und sich schnell selbst befruchtend weiter entwickelt. Dabei geht er nicht immer nur ernst vor, sondern baut reichlich exzentrische Ideen und Vorstellungen ein.
„Moonatics“ ist ein gelungenes Debüt, das anfänglich ein wenig Geduld vom Leser verlangt. Es ist vor allem der Mittelteil mit seiner gut geplanten Abfolge so unterschiedlicher wie teilweise überraschender oder schockierender Ereignisse, die den Betrachter in seinen Bann schlägt, bevor Arne Ahlert seinem Ideenfeuerwerk am Ende deutlich spürbaren Tribut zollen muss.
- Broschiert: 576 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (14. November 2016)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453318145
- ISBN-13: 978-3453318144