
„Unsterblich“ ist der erste Roman des in Hamburg lebenden Journalisten Jens Lubbadeh. Für seine Geschichte „Die Masse macht´s“ hat er den Herbert Quandt Medienpreis erhalten. Ohne Frage handelt es sich beim vorliegenden Buch um einen ambitionierten Erstling, der wahrscheinlich außerhalb der reinen Science Fiction Gemeinde eher auf ein zukunftskritisches Publikum treffen wird. Wer seit vielen Jahren die Entwicklungen im Genre beginnend mit dem Cyberpunk verfolgt, wird von einigen Irrungen und Wirrungen des Buches nicht unbedingt überrascht werden. Jens Lubbedah ist jetzt kein Feind der Science Fiction. Viel mehr fühlt er sich im Genre nicht gänzlich wohl. Er versucht bemüht – es ist nicht die einzige Schwäche des Buches – seinen Roman möglichst nahe an die herausragenden Beispiele des Science Fiction Films wie „Blade Runner“ inklusive des Voight- Kampff- Testes heranzurücken. In dem Film wie im hier vorliegenden Buch geht es um eine Suche und darauf aufbauend einen Auftrag. Harrison Ford soll illegal auf der Erde gelandete Androiden unschädlich machen, während Lubbadehs Zertifizierungsagent nach einer verschwundenen Ewigen – Marlene Dietrich – forschen muss. Der Auftrag ist klar umrissen, das Ergebnis aber ganz anders als es seine/ ihre Vorgesetzten erwartet haben.
Wie bei „Blade Runner“ geht es vor allem darum, diese futuristische Welt zu entwickeln. Was auf den ersten zweihundert Seiten im Grunde bis zur fiktiven Begegnung auf einem virtuellen Markt zwischen dem offensichtlichen und deswegen nicht einzigen Schurken sowie den „Helden“ gut funktioniert, zerfällt am Ende in eine Reihe von ohne Frage im Kino gut anzuschauenden Szenen sowie einem bizarren Ende, das zu viele Fragen offen und zu wenige Antworten hinterlässt. Um auf diese Welt einzugehen. Wer Geld hat, kann sich verewigen lassen. Der Tod wird dadurch relativ. Allerdings hat Lubbedah positiv keine Allroundlösung parat. Die Daten eines Menschen werden aufgezeichnet. Deswegen tragen die meisten, die es sich leisten können, Chronometer. Anscheinend ist es aber - wie sich später herausstellt - gar nicht nötig, ein ganzes Leben aufzuzeichnen. Es reichen zwei Jahre, aus denen nach dem Tod die Persönlichkeit quasi hochgerechnet wird. Allerdings erfolgt die Auferstehung nur als greifbare Illusion. Die Ewigen können nicht mehr altern, sie verharren in dem Moment, der für ihre Wiedererweckung wichtig ist. Im Falle der angesprochenen, inzwischen verschwundenen Marlene Dietrich auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit und damit ihres Ruhms. Diese „Kopien“ können normalerweise nicht über den Tod sprechen. Wie sich im Laufe des Romans herausgestellt, können ganze Teile ihrer Persönlichkeit manipuliert werden. Der Konzern „Immortal“ hat das anscheinend schon bei einigen Präsidenten gemacht, wobei der Leser sich fragt, ob es wirklich sinnvoll ist, eine derartige Zahl von Präsidenten beginnend natürlich bei JFK über Jimmy Carter – der einzige Präsident, der keinen Krieg führen musste, aber Geiseln im Iran nach seiner Amtszeit zurück gelassen hat und bei dem ein Kommandounternehmen mit mehreren Toten scheiterte – bis zu Obama oder Reagan wieder zu beleben und nicht regieren zu lassen. Immerhin müssen von Immortal entsprechende Persönlichkeitsrechte erworben werden. Neben einigen Hemmnissen können diese Kopien auch nicht mit normalen Kameras aufgenommen werden. In einer der besten Szenen des Romans beobachtet der Versicherungsagent Benjamin Kari ein teures Lokal, in dem er auf den Überwachungskameras nur die Menschen sehen und die Ewigen nur erahnen kann. Hintergrundtechnisch folgt der kapitalismus kritische Lubbedah den Ideen des Zeitgeistromans und versucht eine Welt zu präsentieren, die auf der einen Seite durch die Ewigen gänzlich anders zu sein scheint, welche aber auf der anderen Seite dem Leser ausreichend vertraut sein muss, um zu funktionieren. Einige Exkurse ein wenig belehrend beschrieben wie das wiederauferstandene reale und doch irreale Las Vegas ragen dabei aus der Masse heraus. Lubbedah agiert überambitioniert. Wie ein roter Faden kann der Leser die Vorlieben und Antipathien des Autors aus den ausführlichen, den Fluss der Handlung lähmenden Passagen ablesen. Die Begegnung mit dem gealterten Lars von Trier und einigen seiner durchaus pointierten Bemerkungen ist amüsant, während der Hinweis auf zahllose Bücher und alte Filme, die Benjamin Kari goutiert eher belehrend erscheint. Es dauert seine Zeit, bis der Lesefluss vor allem gerade wegen der interessanten Prämisse überhaupt in Fahrt kommt. Es entwickelt sich vor allem ein Widerspruch. Es soll eine Gesellschaft sein, in welcher Reichtum und moderne Sklaverei dominant sind. So verkaufen viele Familienväter quasi ihre Seelen, damit ihre Kinder irgendwann eingefroren und unsterblich gemacht werden. Dabei ist es keine perfekte Unsterblichkeit, sondern eine Transformation. Die Ewigen essen und trinken nicht mehr, sie altern nicht. Sie können nicht über den Tod sprechen und je nach Inkarnation haben sie auch kein Interesse mehr am Sex oder emotional an ihren Mitmenschen. Lubbadeh versucht den Hang zur Oberflächlichkeit, zu Statussymbolen zu geißeln und unterliegt impliziert selbst der Versuchung, in dem er seinen ambivalenten, tief traurigen und doch auch neugierigen Hauptprotagonisten selbst in die Eitelkeitsfalle schickt und sich mit den Beschreibungen von Nebensächlichkeiten aufhält. Vieles wirkt vor allem unabhängig von der Idee der Ewigen gekünstelt. Wäre alles wie zum Beispiel bei „Welt am Draht“ oder der entsprechenden literarischen Vorlage eine Kunstwelt, in welcher die Computerprogramme den Gehalt aller Menschen bestimmen, niemand wäre wirklich überrascht. So steril und so wenig greifbar ist diese künstliche Welt. Natürlich ist die Künstlichkeit eine der Ideen des Buches. In Kombination mit dem leider antiquierten Plot einer Verschwörung der Konzerne. Aber der Funke will vor allem nach dem zähen Beginn und dem hektisch wirkenden Ende alleine im solide geschriebenen Mittelteil mit seinen Action James Bond Anspielungen einige Momente überspringen.
Die Grundideen sind ambitioniert, aber Lubbedah verzettelt sich auch ein wenig. Auf der zwischenmenschlichen Ebene kann er keine griffigen dreidimensionalen Figuren entwickeln. Der Hacker Ruben Mars mit seinem komplizierten, aber nicht unbedingt komplexen Plan, die Öffentlichkeit zu warnen und die Welt aus den Angeln zu heben, hat einige Augenblicke des Ruhms und kann aber nur mit seinen bizarren Ideen punkten. Kari selbst wirkt irgendwie wie ein Fisch aus dem Wasser geholt. Zu weinerlich, zu zögerlich, zu eindimensional, zu wenig voller Leben und vor allem zu distanziert beschrieben leidet der Leser keinen einzigen Augenblick wirklich mit ihm. In einer Ehe mit einer Ewigen gefangen, für deren Tod er durch einen Augenblick der Ablenkung auf einer Nachhausefahrt nach einer Feier verantwortlich ist, arbeitet der Autor ein Klischee nach dem Anderen ab. Dazu kommt die Liebesgeschichte natürlich mit einer intelligenten, dynamischen wie attraktiven Journalistin. Auch hier erdrücken die Selbstzweifel jegliche Emotion.
Schwach ist das Buch auf der Seite der Schurken. Im Gegensatz zu Kari ist der Leser zumindest durch verschiedene Erzählperspektiven ihm mindestens einen Schritt voraus. Mit dieser ein wenig unglücklichen Konstruktion des Buches geht der geplante Paukenschlag ins Leere. Hinzu kommt, dass die rein kommerziellen Interessen der natürlich im Hintergrund die Welt manipulierenden Konzerne wie manches andere an diesem Roman ambitioniert, aber auch eindimensional klischeehaft beschrieben worden sind. Der mahnende Zeigefinger ist überdeutlich zu sehen.
„Unsterblich“ ist für einen Erstling eine Art Liebhaberprojekt, in das neben einer soliden, aber vor allem auch wegen der entwickelten Nachteile fragwürdigen Idee – es ist ja keine Unsterblichkeit, sondern eine verzerrte Fortführung einer kopierten Existenz – sehr viele kleine Nebenkriegsschauplätze eingeflossen sind, die stilistisch nicht entwickelt, sondern ermüdend platziert worden sind. Erzähltechnisch teilweise zu gleichförmig, zu schwerfällig geschrieben wirken einzelne Passagen eher wie Teile einer sekundärliterarischen Forschungsarbeit als eines Romans. Es gibt insbesondere in Mittelteil andere Passagen, in denen das Buch stellenweise durch die Kombination von greifbar beschriebenen Hintergründen und spannenden Szenen zu Leben beginnt, bevor der intellektuelle mahnende Ballast mit dem hektischen Ende diese Pflänzchen wieder erdrückt. Jens Lubbadeh hätte sich einen Gefallen getan, wenn er behutsamer vorgegangen wäre. Warum diese einmalige Entführungsgeschichte wirklich in derartigen Dimensionen enden lassen, anstatt vor dem stetig weiter zu entwickelnden Hintergrund eine reine Kriminalgeschichte zu erzählen? Letzte Möglichkeit wäre nicht nur für den Leser zugänglicher gewesen, der Autor hätte in weiteren Texten das von ihm erschaffene, aber korrupte Fundament dieses virtuelles Jahrmarkts der Eitelkeiten zum Einstürzen bringen könne. Vor allem leidet das Buch unter der gegen Ende überambitionierten Vorgehensweise, die Karis Mission zu hinterfragen beginnt, bevor diese überhaupt begonnen hat. Und damit beraubt sich der Autor teilweise seines schärfsten Schwertes. Positiv gesprochen orientiert sich Lubbadeh am futuristischen Retrostil des „Blade Runners“ und unterhält unabhängig von den angesprochenen Schwächen zumindest kurzweilig, solange Kari nicht die Welt verändern, sondern nur Marlene Dietrichs Ewige finden möchte.
- Broschiert: 448 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (11. Juli 2016)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453317319
- ISBN-13: 978-345331731